Kindeswohl bei Trennung der Eltern — Erhebung durch Sachverständige und Bewertung durch das Familiengericht
Einleitung
In dem hier vorliegenden Beitrag kann anhand eines Praxisbeispiels gezeigt werden, dass sowohl die Notwendigkeit der Verfügbarkeit eines konsensfähigen humanwissenschaftlichen Bezugsrahmens als auch die Forderung nach richterlicher Kontrollfähigkeit im Familienrecht aktuell sind.
Ausgangslage
Grundlage für Sorgerechts- und Umgangsrechtsregelungen nach Trennungen der Eltern ist das Kindeswohlprinzip nach § 1697a des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Der Kindeswohlbegriff ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der zu seiner Konkretisierung auf außerjuristische Bereiche verweist. Das Kindeswohlprinzip wird in der Rechtsprechung vor allem durch sogenannte »Kindeswohlkriterien « operationalisiert, die in ihrer inhaltlichen Auslegung und Beschreibung vielfach auf außerjuristische, vornehmlich pädagogische, sozialpädagogische, erziehungswissenschaftliche und psychologische Erkenntnisse angewiesen sind.
Zielsetzung jedes Sorgerechts- und Umgangsrechtsverfahrens nach Trennung von Eltern ist die Sicherstellung der Individualgerechtigkeit anstelle einer Gleichgerechtigkeit. Dazu sind erhebliche außerjuristische Kenntnisse erforderlich und in die Einzelfallentscheidung einzubeziehen. Die normative Bestimmung und fallbezogene Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs »Kindeswohl « kann deshalb nicht gelingen, ohne hierbei auf Wissen zurückzugreifen, das sich auf die soziale Lebenswirklichkeit des Kindes bezieht, also auf soziologisches, entwicklungspsychologisches und pädagogisches Wissen (Münder, Ernst & Behlert, 2013, S. 18–19).
Eine transparente und geregelte Schnittstelle der Kinderschutzinstitutionen zur Wissenschaft und damit der Zugang zu aktuellen Forschungsergebnissen zu den Inhalten des Kindeswohlbegriffs und zu den angewendeten Kindeswohlkriterien existiert bisher nicht. Vielmehr wird das inhaltliche Füllen der rechtlichen Kindeswohlkriterien der Entscheiderin bzw. dem Entscheider überlassen, die bzw. der in den meisten Einzelfallentscheidungen diese Aufgabe an Sachverständige weiterleitet. Die Sachverständigen sind dann gefordert, den Kenntnisstand ihrer Wissenschaft mit geeigneten Methoden und Verfahren auf spezielle, dem individuellen Fall entsprechende Fragestellungen anzuwenden (Fthenakis, 1984, S. 48).
Da es keine rechtlich verbindlichen Qualitätsanforderungen an Sachverständige einerseits und keine rechtlich verbindlichen Standards für die Gutachtenerstellung andererseits gibt, ist ein berechtigter Zweifel an der Verlässlichkeit der Ergebnisse der Sachverständigen gegeben, der durch mehrere Untersuchungen gestützt wird (siehe hierzu ausführlich: Klüber, 1998; Salewski & Stürmer, 2014, S. 27–28; Stürmer, Salewski, Meyer & Meyer, 2015, S. 39–41; Terlinden-Arzt, 1998). Daran hat auch das »Gesetz zur Änderung des Sachverständigenrechts und zur weiteren Änderung des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit sowie zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes, der Verwaltungsgerichtsordnung, der Finanzgerichtsordnung und des Gerichtskostengesetzes« vom 16. Oktober 2016 kaum etwas geändert.
So existiert aktuell ein selbstreferenzierendes System, in dem viele Familiengerichte auf die Inhalte der veröffentlichten Entscheidungen, die überwiegend auf Sachverständigengutachten begründet sind, für Kontrollzwecke zurückgreifen, um der Individualgerechtigkeit »gerecht« zu werden. Diese Vorgehensweise »der fortschreitenden Verlagerung des Entscheidungsprozesses von der richterlichen auf die administrative Ebene« (Simitis, 1975, S. 57; siehe auch Salgo, 2016, S. 204) führt im Familienrecht zu einer richterlichen Abhängigkeit von den Instanzen, die ebendiese Informationen zum Kindeswohl ermitteln und weitervermitteln. Coester (1983, S. 464) formuliert diese Problematik wie folgt: »Ob zu Recht von einer Abdankung der Richter zugunsten von Sachverständigen gesprochen werden kann, hängt nicht nur von der pflichtgemäßen Wahrnehmung der Kontrollfunktion durch die Gerichte ab, sondern auch von ihrer Kontrollfähigkeit.« Durch diesen Kreislauf der Bestimmung des Kindeswohls in jedem Einzelfall wird an keiner Stelle sichergestellt, dass die aktuellen und konsensfähigen Erkenntnisse der Humanwissenschaften zum Kindeswohl und die zu seiner Ausfüllung eingesetzten Kriterien berücksichtigt werden und in die Entscheidungsfindung zur Sicherstellung der Individualgerechtigkeit einfließen (siehe hierzu: Frank, 2019, S. 1389; Heilmann, 2018, S. 666–669; Lies-Benachib, 2019, S. 427–428; Nolte, 2018, S. 1225–1226; Schenck, 2018, S. 1809–1811).
Bei einer solchen Vorgehensweise ist zu keinem Zeitpunkt im Entscheidungsprozess sichergestellt, dass Familiengerichte in der Lage sind, die Ergebnisse der Sachverständigen nachzuvollziehen. Deshalb sehen die Verfasser eine grundlegende Qualitätsverbesserung der gerichtlichen Entscheidungen zum Kindeswohl darin, einen vollständigen und regelmäßigen Transfer von humanwissenschaftlichen Erkenntnissen zur Bestimmung des Kindeswohls zu den vorhandenen rechtlichen Kindeswohlkriterien vorzunehmen und in jedem Einzelfall als Bewertungsmaßstab zu berücksichtigen. Den rechtlichen Kindeswohlkriterien kann dadurch ein konsensfähiger humanwissenschaftlicher Bezugsrahmen gegenübergestellt werden, an dem ein konkreter Fall beurteilt werden kann. Interdisziplinäre Zusammenarbeit und Kooperation sind zwar nicht immer attraktiv und arbeitsökonomisch, jedoch für die Interessenlage der Kinder notwendig, da ansonsten das Risiko zunimmt, dass für die Entwicklung der Kinder nachteilige Entscheidungen getroffen werden (Fegert, 1999, S. 13). Weiterhin reicht die alleinige Entscheidungsdelegation an Sachverständige nicht aus, da auch die von Sachverständigen vorgelegten Daten und Befunde im Entscheidungsprozess von der Entscheiderin bzw. vom Entscheider kontrolliert und bewertet werden müssen.
Generalklausel/Unbestimmter Rechtsbegriff
Der im Gesetz mehrfach verwendete juristische Begriff des »Kindeswohls« als Entscheidungsmaxime für gerichtliche Entscheidungen ist ein unbestimmter Rechtsbegriff und gilt als ein hypothetisches Konstrukt (Coester, 1986, S. 40). Diesen rechtlichen Kindeswohlbegriff sieht Coester (1986) als Generalklausel an, die das generelle Regelungsmuster insbesondere in zwei Richtungen offenhalten will: »gegenüber den Besonderheiten des Einzelfalls und den sich wandelnden Anschauungen über die Bedürfnisse von Kindern in bestimmten Krisensituationen« (Coester, 1986, S. 39). Dabei enthält das Kindeswohlprinzip zwei Grundwertungen: a) Vorrang der Kindesinteressen vor allen anderen beteiligten Interessen und b) Vorrang von Einzelfallgerechtigkeit vor Gleichgerechtigkeit bzw. allgemeinen Regelungen (Staudinger/Coester, 2020, S. 156).
Das Wohl des Kindes ist die ratio legis kindesbezogener Verfassungsrechtsstellung und ein wertausfüllungsbedürftiger Rechtsbegriff mit Gegenwarts- und Zukunftsbezug. Die Kindeswohlklausel ist keine Gesamtverweisung auf außerrechtliches Aussagenmaterial, sondern ist nach Coester (1983) als Anweisung an Familiengerichte zu verstehen, unter Beachtung des maßgeblichen Erfahrungswissens vom Kinde die sozialen Lebensverhältnisse zu rechtsschöpferischer Gestaltung zu ordnen (Coester, 1983, S. 164). Der Kindeswohlbegriff bezeichnet deshalb sowohl den gegenwärtigen Zustand des körperlichen, geistigen und seelischen Wohlbefindens des Kindes als auch den Prozess seines Hineinwachsens in die Selbstbestimmungs- und Selbstverantwortungsfähigkeit (Jestaedt, 2011, S. 104). Die Konkretisierung des Kindeswohls im Einzelfall ist ein Akt normativ nur unzureichend determinierter, d. h. offener Bewertungen (Jestaedt, 2011, S. 105), da das Kindeswohl »in seiner Anwendung immer auf ein konkretes Kind als Individuum bezogen werden muss« (Staudinger/Lettmaier, 2020, S. 273).
Durch den »komplexen wertausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriff« (Johannsen, Henrich & Althammer/Lack,
2020, S. 1166) werden Familiengerichten materielle Wertungen und methodische Handlungsanweisungen vorgegeben: »Materiell normiert das Gesetz den Vorrang der Kindesinteressen vor denen der Eltern (und damit auch vor elterlichen ›Gleichberechtigungsinteressen‹) sowie vor gesellschaftlichen Interessen. Des Weiteren nimmt das Gesetz (§ 1697a) mit diesem Begriff die Gesamtheit der körperlichen, seelischen und geistigen Lebensbedingungen des Kindes in Bezug. Es verweist das Gericht damit auch in außerjuristische Bereiche« (Gernhuber & Coester-Waltjen, 2020, S. 760).
Bestimmung des Kindeswohls
In der richterlichen Rechtsschöpfung für den Einzelfall sind Familiengerichte in dreifacher Weise gebunden: »Neben die selbstverständliche Bindung an das positive Recht, das den Wertungsrahmen setzt und auch einzelne Konkretisierungshinweise gibt, tritt der Auftrag zur Ausschöpfung des gesamten erreichbaren Wissens über die einschlägigen Kindesbedürfnisse im allgemeinen sowie über diejenigen des betroffenen Kindes im besonderen – also Aufklärung des konkreten wie generellen Tatsachenmaterials. Bindung auf methodischer Ebene komplettiert den Gesamtauftrag, der in der Kindeswohlklausel enthalten ist; sie verpflichtet den Richter zu Objektivität und Rationalität vor allem dort, wo er dem Gesetzgeber nicht mehr ›bei Fuß‹ zu gehen hat, sondern sich an langer Leine oder gar ganz ohne unmittelbare Kontrolle bewegen kann (und muß). Damit ist einem weiteren Fehlverständnis die Absage erteilt, das – die Not zur Tugend machend – durch den Kindeswohlbegriff die persönlichen Überzeugungen des Richters für berufen hält« (Coester, 1986, S. 40).
Das Familiengericht wird in seiner Entscheidungsfindung auch in außerjuristische Bereiche verwiesen, damit die am konkreten Einzelfall ausgerichtete kindgerechte Entscheidung nicht durch die Anwendung genereller Regeln, Vermutungen und angeblicher Erfahrungssätze erfolgt (Gernhuber & Coester-Waltjen, 2020, S. 760). »Bausteine der richterlichen Normkonkretisierung sind Kindeswohlkriterien innerhalb und außerhalb des Rechts – der Kindeswohlbegriff weist per definitionem über den Bereich des Rechts hinaus« (Staudinger/Coester, 2020, S. 156).
Rechtliche Kindeswohlkriterien
Das Grundgesetz und die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts geben die rechtlichen Kindeswohlkriterien vor. »Entscheidungsleitendes rechtliches Kriterium des Kindeswohls ist darüber hinaus das im GG verankerte Erziehungsziel der selbständigen und eigenverantwortlichen, zu sozialem Zusammenleben fähigen Persönlichkeit (BVerfG FamRZ 2008, 1737). […] Diesem Kriterium sind alle anderen Maßstäbe untergeordnet« (Staudinger/Coester, 2020, S. 158–159; siehe auch Johannsen, Henrich & Althammer/Lack, 2020, S. 1166). Die weiteren Kriterien können ebenso als rechtlich abgesichert angesehen werden: die Wichtigkeit von Kontinuität und Stabilität der Betreuungs- und Erziehungsverhältnisse (vgl. § 1632 Abs. 4 BGB, § 1666a Abs. 1 BGB, § 1682 BGB), die inneren Bindungen des Kindes (neben der »seelischen« Komponente in § 1666 Abs. 1 BGB vor allem § 1632 Abs. 4 BGB, § 1682 BGB; in verallgemeinerter Form § 1626 Abs. 3 BGB, § 1684 Abs. 1 BGB und § 1685 BGB), der subjektive Wille des Kindes sowie der familiäre Gesamtzusammenhang des Kindesschutzes (§ 1666a BGB) (Staudinger/Coester, 2020, S. 159).
In der Rechtslehre stellen insbesondere Coester (1983, S. 176–364); Gerhardt, v. Heintschel-Heinegg & Klein/Jokisch (2021, S. 570–591); Johannsen, Henrich & Althammer/Lack (2020, S. 1167–1186); Schwab (1998, S. 464–465; Schwab & Ernst/Schäder, 2019, S. 417–444) und Staudinger/Coester (2020, S. 158–159, S. 386–419) die rechtlichen Kindeswohlkriterien, anhand derer rechtliche Aussagen zum Kindeswohl getroffen werden können, detailliert dar:
- Das Förderungsprinzip bzw. die elterliche Erziehungseignung umfasst die Erfassung und Prüfung der Persönlichkeit der Eltern und ihrer persönlichen Lebensumstände, der Haltung der Eltern und des Kindes zur Gestaltung der Beziehungen nach der Trennung, der Erziehungsziele, der Erziehungskompetenzen und der Bindungstoleranz, der Betreuung und äußeren Lebensverhältnisse, die das Kind bei seinen Eltern vorfindet, und der Förderung individueller Kindesanlagen.
- Das Kontinuitäts- und Stabilitätsprinzip beinhaltet die Prüfung der Kontinuität und Stabilität der Erziehungsverhältnisse.
- Im Hinblick auf die Bindungen des Kindes werden die Qualität der jeweiligen Eltern-Kind-Beziehung und die Bindungen des Kindes zu beiden Eltern und anderen Bezugspersonen untersucht.
- Im Hinblick auf den Kindeswillen werden einerseits der Ausdruck der Selbstbestimmung des Kindes und andererseits der Ausdruck der Verbundenheit des Kindes mit seinen Bezugspersonen untersucht.
Die hier vorgenommene Aufgliederung der Kindeswohlkriterien in Förderung der Persönlichkeit des Kindes,
Kontinuität und Stabilität seiner Lebensumstände, seine Bindungen und seinen Willen erfordert eine Gesamtabwägung, da die genannten Kriterien auch Interdependenzen haben, die im Einzelfall unter Beachtung der Individualgerechtigkeit betrachtet werden sollten (BGH 11.07.1984, IVb ZB 73/83, FamRZ 1985, 169–172, S. 169–170; BGH 06.12.1989, IV b ZB 66/68, FamRZ 1990, 392–394, S. 393).
Der Bundesgerichtshof formuliert hierzu: »Die einzelnen Kriterien stehen aber letztlich nicht wie Tatbestandsmerkmale kumulativ nebeneinander. Jedes von ihnen kann im Einzelfall mehr oder weniger bedeutsam für die Beurteilung sein, was dem Wohl des Kindes am besten entspricht (Senatsbeschlüsse vom 06.12.1989 – IV b ZB
66/68 = FamRZ 1990, 392, 393, m.w.N., und BGHZ 185, 272 = FamRZ 2010, 1060 Rz. 19)« (BGH 16.03.2011, XII ZB 407/10, FamRZ 2011, 796–802, S. 798; ähnlich: BGH 06.12.1989, IV b ZB 66/68, FamRZ 1990, 392–394, S. 393). Das Gesetz fordert einen offengelassenen Abwägungsprozess.
Diese Kriterien gelten auch für die Regelungen zum Umgangsrecht (BGH 01.02.2017, XII ZB 601/15, FamRZ 2017, 532–538, S. 535).
Außerrechtliche/Wissenschaftliche Erkenntnisse
In die Auslegung des Rechts müssen im Familienrecht (und auch im Kinder- und Jugendhilferecht) gerade wegen der Unbestimmtheit des Kindeswohlbegriffs im Gesetz außerjuristische, zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung gültige und konsensfähige sozial- und humanwissenschaftliche Erkenntnisse in die Entscheidungsfindung einfließen. »So liegt es nahe, dass Rechtspolitik und Rechtswissenschaft die Erkenntnisse dieser Wissenschaften für ihre Realitätswahrnehmung zu Rate ziehen« (Schwab, 2016, S. 209; siehe auch: Emery, 2019, S. 11–12). »Die Verwissenschaftlichung des Kindeswohls gerät so mehr und mehr zum Garanten der Entscheidungsrichtigkeit « (Simitis, 1986, S. 600). Das materielle Kindschaftsrecht kommt kaum ohne die Befunde der sozial- und humanwissenschaftlichen Forschung und Praxis aus (Salgo, 2016, S. 193).
Trotz oder wegen dieser herausragenden Bedeutung der humanwissenschaftlichen Dimensionen des rechtlichen Kindeswohlbegriffs bzw. der konsensfähigen Erkenntnisse der Humanwissenschaften zu den rechtlichen Kindeswohlkriterien gibt es bisher keine institutionelle Schnittstelle der Humanwissenschaften zu den Rechtswissenschaften. Sachverständige bemühen sich daher selbst mehr oder weniger um ihre inhaltliche Sachkunde hinsichtlich der »Kenntnisse der Trennungsdynamik, Kenntnisse der Trennungs- und Scheidungsforschung und der einschlägigen psychologischen Aspekte, die für das Kindeswohl wesentlich sind; Kenntnisse und Fähigkeiten in Intervention bei familiären Konflikten; Kenntnisse der psychodiagnostischen Methoden, um die verschiedenen Aspekte erfassen zu können« (Arbeitsgruppe Familienrechtliche Gutachten, 2019, S. 1768).
Dabei wird überwiegend auf sogenannte »rechtspsychologische Literatur« zurückgegriffen, bei der teilweise gerichtliche Entscheidungen aller Instanzen und humanwissenschaftliche Erkenntnisse in Empfehlungen vermischt werden oder nur ein Teil der verfügbaren empirischen Ergebnisse Verwendung gefunden hat. In dieser Literatur werden auch die Entscheidungen der Oberlandesgerichte einbezogen, die sich fast vollständig auf Sachverständigengutachten stützen. Die Untersuchungen von Klüber (1998), Salewski und Stürmer (2014, S. 27–28), Stürmer et al. (2015, S. 39–41) sowie Terlinden- Arzt (1998) konnten belegen, dass ein Großteil der Sachverständigengutachten im Familienrecht sowohl den humanwissenschaftlichen als auch den methodischen Anforderungen nicht genügt. Damit besteht die Möglichkeit, dass die Entscheidungen der Oberlandesgerichte ebenfalls den zugrunde liegenden Sachverhalten nicht immer gerecht werden.
Um diesen Kreislauf zu unterbrechen, ist es deshalb erforderlich, dass den jeweiligen rechtlichen Kriterien des Kindeswohlprinzips und deren Inhalten die aktuellen konsensfähigen theoretischen und empirischen Erkenntnisse der Sozial- und Humanwissenschaften verlässlich gegenübergestellt werden. Darüber hinaus ist es sinnvoll, dass die grundlegenden Kindesbedürfnisse und Risiko- und Schutzfaktoren der betroffenen Kinder, Eltern und der relevanten Umwelt zusätzlich bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden.
Bewertung der Kriterien
Der Kindeswohlbegriff erfordert von den für die Konkretisierung letztverantwortlichen Entscheidenden ein Beachten all dieser Aspekte sowie aller dazu erhältlicher Äußerungen im Sinne einer Berücksichtigungspflicht. Neben der Prüfung der sachlichen Richtigkeit von Aussagen zum Kindeswohl sollten eine rechtliche Stimmigkeitskontrolle und eine Individualisierung im Sinne des Einzelfalls erfolgen. Im Anschluss sind alle Gesichtspunkte in ein Gesamtbild des Kindeswohls zu formen, das Folgerungen für die zu treffende Entscheidung zulässt. Dabei ist das Kindeswohl nicht nur in gegenwärtiger Hinsicht zu beurteilen, sondern auch in seiner Zukunftsperspektive festzustellen und zur alleinigen Entscheidungsgrundlage zu machen, um in diesem Sinn Individualgerechtigkeit für das Kind zu verwirklichen (Johannsen, Henrich & Althammer/Lack, 2020, S. 1185).
Aktuelle Sachverständigengutachten
Das Kindeswohl als abstrakte Größe bezieht sich auf das in der konkreten Rechtsstreitigkeit befindliche Kind, also auf sein ganz persönliches, individuelles Wohl. Da Kinder enorm unterschiedlich in ihren individuellen Anlagen und Bedürfnissen sein können, bedarf es einer höchst differenzierten Betrachtung im Einzelfall.
Die Verfasser können anhand von über 400 Sachverständigengutachten im Familienrecht die Beobachtung machen, dass die Betrachtung des Einzelfalls entscheidend von der Individualität der Person der bzw. des Sachverständigen abhängt, deren bzw. dessen ganz persönliche Werteanschauungen, Überzeugungen und Moralvorstellungen die Projektionsfläche bilden, auf die die Situation des Kindes trifft. Damit die gutachterliche Empfehlung nicht völlig willkürlich ausfällt, haben Sachverständige auf ein Bewertungssystem zurückzugreifen, welches sich an klaren Prinzipien orientiert und die Aspekte möglichst genau benennt, die im Ermessen der Sachverständigen liegen.
Das Kindeswohl schwebt jedoch für Sachverständige keineswegs im luftleeren Raum humanwissenschaftlicher Hermeneutik, da die Sachverständigen als Maßstab auf die konsensfähigen Erkenntnisse der Humanwissenschaften zu den rechtlichen Kindeswohlkriterien zurückgreifen können. Auf diese Weise kann den im konkreten Fall zu berücksichtigenden Kindesbedürfnissen das gesamte Wissen über die einschlägigen Kindesbedürfnisse im Allgemeinen als Bezugsgröße gegenübergestellt werden. Das wird aber nicht immer vorgenommen und kann anhand eines aktuellen Beispiels verdeutlicht werden.
Beispiel Amtsgerichts Karlsruhe-Durlach
(Az. 2 F 152/19):
1. Der gerichtliche Beweisbeschluss
Das Amtsgericht Karlsruhe-Durlach hat am 18. September 2019 einen Beweisbeschluss gefasst, in dem festgestellt werden sollte, ob unter Berücksichtigung der gefühlsmäßigen Bindungen des zu diesem Zeitpunkt sechs Jahre alten Kindes, der Erziehungsfähigkeit des Vaters und der Mutter sowie der jeweils angestrebten Perspektiven für das eigene Leben der Umgang des Kindes mit dem Vater eingeschränkt/anders geregelt werden sollte, als er im Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe festgelegt wurde, da ansonsten eine Kindeswohlgefährdung vorliegt oder eintreten könnte, und ob auch eine Übertragung von Teilbereichen des Sorgerechts, wie z. B. die Gesundheitsfürsorge, aufgrund dessen erforderlich sei.
2. Das vom Amtsgericht beauftragte Sachverständigengutachten
2.1 Psychologische Fragestellungen:
Die vom Amtsgericht beauftragte Sachverständige führt folgende »psychologische Kriterien« – Entscheidungskriterien – an, anhand derer sie die gerichtliche Fragestellung beantwortet:
- »familiäre Beziehungen des Kindes
- prognostische Kriterien auf Seiten des Kindes: Entwicklungstand, Potenziale, Ressourcen sowie etwaige Förder-/Therapiebedürfnisse
- Wille des Kindes
- Erziehungs- und Förderkompetenzen der Eltern, d. h.
- Fähigkeit zur altersgemäßen Versorgung bezüglich emotionaler, seelischer und körperlicher Bedürfnisse (inklusive positive Beziehungsangebote, uneingeschränkte Akzeptanz und emotionale Annahme des Kindes)
- Erziehungsvorstellungen und ‑verhalten (z. B. Umsetzung des Förderprinzips, Vermittlung von Regeln und Werten)
- Bindungstoleranz und Kooperationsbereitschaft der Eltern bzw. der mit ihnen verbundenen Bezugspersonen
- sozioökonomische Rahmenbedingungen«.
2.2 Eingesetzte Methoden:
Die Kriterien wurden mit diesen Methoden erfasst:
- »Auswertung Dokumente
- Explorationen der Eltern
- Psychologische Verfahren der Eltern: EBI, Eltern-Belastungs-Inventar (Tröster, 2011)
- Exploration Kind
- Psychologische Verfahren Kind: EWU, Eltern-Wahrnehmungs-Unterschiede (Hommers, 2009)
- Interaktionsbeobachtung: Die freien und strukturierten Interaktionen wurden unter folgenden Aspekten systematisch beobachtet und ausgewertet: (Erziehungs-)Verhalten der Bezugspersonen, Beziehungen zwischen dem Kind und den Bezugspersonen sowie etwaige Verhaltensauffälligkeiten des Kindes. Die strukturierten Interaktionsbeobachtungen basieren auf der Heidelberger Marschak-Interaktions-Methode (H‑MIM; Ritterfeld & Franke, 1994)
- Themenzentrierte Gespräche mit Drittpersonen«
Die Sachverständige gibt weiterhin an, dass nach Rücksprache mit dem Gericht die Ergebnisse und die Empfehlung zur gerichtlichen Fragestellung in Form eines Kurzgutachtens mitgeteilt werden, »bei dem stark verdichtet berichtet wird bzw. die einzelnen Untersuchungsschritte nicht detailliert dargestellt werden«. Dies diene einer schnelleren Fertigstellung, sei kostengünstiger, und nicht zuletzt müssen so den Konflikt möglicherweise verschärfende Inhalte nicht im Einzelnen wiedergegeben werden.
2.3 Empfehlungen des Sachverständigengutachtens: Das vom Amtsgericht beauftragte Sachverständigengutachten vom 20. Juli 2020 kam zu dem Ergebnis, dass die »sehr günstige entwicklungsbezogene Ausgangslage« des Kindes »stark durch psychische Verhaltensauffälligkeiten« relativiert werde. Im Gutachten wurde ausgeführt, dass sich das Kind »in einem erheblichen Spannungsfeld« befinde, sodass die Verhaltensauffälligkeiten prognostisch weiter »bestehen bleiben bzw. weiter zunehmen, wenn sich das Spannungsfeld nicht reduziert«. Im Gutachten wurde weiter aufgeführt, dass »vor diesem Hintergrund […] unter der Beibehaltung der aktuellen Umgangsmodalitäten eine Kindeswohlgefährdung gegeben« sei. Als Ursachen für die Belastungen des Kindes wurde im Gutachten genannt, dass das Kind einem Koalitionsdruck durch die Mutter ausgesetzt sei und dass das Kind, »um diesem Druck zu entgehen, […] zunehmend Widerstand gegen die Vaterkontakte« zeige, »den die Mutter aufgreift und bestärkt«. Trotz sicherer Bindung des Kindes zu seinem Vater sah das Gutachten »eine strikte, längere Aussetzung des Umgangs« vor, »da die derzeitige Situation « für das Kind »hoch aversiv ist« und »eine Umgangsaussetzung für ihn eine Entlastung« sei.
Die Sachverständige erläutert auch, dass der (zumindest temporäre) Verlust des Vaters – einer wichtigen Bezugs-/Bindungsperson – eine Belastung für das Kind darstellen würde und das Risiko bestehe, dass sich das Kind noch weiter von dem Vater entfremde. Sie empfiehlt, den Versuch zu unternehmen, »den Umgang mit verstärkter fachlicher Unterstützung zu fördern und zu verbessern, z. B. für die Dauer eines Vierteljahres«. Das Kind solle bei einer Psychotherapeutin angebunden werden, damit Verhaltensauffälligkeiten in dieser Zeit beobachtet werden könnten und mit dem Kind daran gearbeitet werden könne, sich von den elterlichen Einflüssen besser abzugrenzen. Diese Anbindung sei auch unter dem Aspekt sinnvoll, »dass im Falle einer späteren Umgangsaussetzung« eine fachliche Einschätzung zum Befinden bzw. zur psychischen Stabilität, zur Distanzierungsfähigkeit vom elterlichen Loyalitätsdruck sowie zum Willen des Kindes gewährleistet sei, »da hieran der Zeitpunkt einer Wiederaufnahme des Umgangs geknüpft werden sollte«. Zu der Dauer der Umgangsaussetzung macht die Sachverständige folgende Angaben: »Falls die Umgangsaussetzung notwendig werden sollte, wird ein Zeitraum von mindestens sechs Monaten empfohlen (ggf. länger, wenn dies aus therapeutischer Sicht sinnvoll erscheint).«
3. Rechts- und humanwissenschaftliche Bewertung des Sachverständigengutachtens
3.1 Förderprinzip bzw. die elterliche Erziehungseignung – Konflikte der Eltern: Begründet wird diese Empfehlung durch die Annahme der Sachverständigen, dass aus der aktuellen Studienlage abgeleitet werden kann, »dass ein anhaltender Elternkonflikt mit einem noch größeren Risiko für die kindliche Entwicklung einhergeht als ein Beziehungsabbruch zu einem Elternteil, zumindest unter der Voraussetzung, dass eine positive Beziehung des Kindes zum anderen Elternteil besteht (Emery, 2016)«.
Emery (2016, S. 28) führt auf, dass es eine Hierarchie von Bedürfnissen von Kindern bei der Trennung ihrer Eltern gibt: »Children’s needs in two homes can be portrayed as a pyramid much like Maslow’s. Here is my unique, evidence-based hierarchy of Children’s Needs in Two Homes […]. For example, protection from conflict is more basic need than having involved relationships with both parents. Let me be clear. I absolutely want children to have good relationships with both of their parents. All of children’s needs in two homes are important. But based on research – and for reasons I discuss in detail in this chapter – living in the middle of a war zone between two parents is more harmful to children than having a really involved relationship with only one of them.« Die Feststellung von Emery (2016) ist humanwissenschaftlich nicht konsensfähig. Emery (2016) führt als Beleg Forschungsergebnisse an (»based on research«), die er aber nicht benennt. Emery sagt auch nichts über die Art, Dauer und Intensität der gemeinten Konflikte aus. Er spricht undifferenziert von »conflicts« und von »a warzone between two parents« (Emery, 2016, S. 28).
In den Humanwissenschaften ist konsensfähig, dass es verschiedene kindesbezogene Einflussfaktoren der Interaktionen zwischen Kind und Eltern nach einer Trennung auf die Entwicklung des Kindes gibt. Abbildung 1 zeigt in Anlehnung an das Modell von Fabricius, Sokol, Diaz und Braver (2012, S. 189) die Komponenten Quantität der Interaktionen, Qualität der Interaktionen, Einhaltung des wechselseitigen Wohlverhaltensgebots und Akzeptanz der Kontaktregelung.
Weiterhin ist in den Humanwissenschaften konsensfähig, dass die empirische Befundlage zu den Auswirkungen hoher Konflikte zwischen den Eltern auf den Umgang von Kindern mit ihren Eltern uneinheitlich ist: »The extent to which ›parallel parenting‹ strategies involving minimal contact between parents ameliorate risk for the child living in a high-conflict, shared-time arrangement is unclear. Given the quality, depth, and breadth of the conflict literature, some conclusions can nonetheless be drawn by inference« (Smyth, McIntosh, Emery, & Higgs Howarth, 2016, S. 158).
Die Fragestellung, »ob eine Wechselwirkung zwischen Konfliktniveau und Betreuungsregelung existiert, sodass Kinder bei einem hohen elterlichen Konfliktniveau durch mehr Kontakte zum getrenntlebenden Elternteil im Mittel überdurchschnittlich belastet werden« (Kindler, 2018, S. 50), ist in den Humanwissenschaften nicht geklärt. Die vorhandenen Studien können nach zwei theoretischen Ansätzen gegliedert werden. Die Konflikthypothese behauptet, dass es eine Interaktion gibt zwischen elterlichen Konflikten und der Zeit, die Eltern mit ihren Kindern verbringen. Die Schlussfolgerung ist die, dass eine höhere Quantität zwischen Eltern und ihren Kindern dann vorteilhaft ist, wenn der elterliche Konflikt gering ist, und Nachteile birgt, wenn der elterliche Konflikt hoch ist (Mahrer, O’Hara, Sandler, & Wolchik, 2018, S. 327–328). Argumentiert wird dahin gehend, dass ein häufiger Kontakt zwischen Kindern und ihren Eltern häufigere Gelegenheiten schafft, dass Kinder Konflikte zwischen ihren Eltern mitbekommen, und die Kinder dadurch höhere Belastungen haben. Die Vorteilshypothese sagt aus, dass bei niedrigen Konflikten als auch bei hohen Konflikten größere Zeitanteile des Kindes mit beiden Eltern zu besseren Anpassungsleistungen der Kinder führen, da die möglichen Vorteile einer Unterstützung durch beide Elternteile vergrößert werden. Dabei profitieren Kinder aus Familien mit hohen Konflikten dann von einem größerem Zeitanteil mit beiden Eltern, wenn die Qualität der elterlichen Erziehung hoch ist: »A further variant of the benefits hypothesis is that, to understand the relation between parenting time and child adjustment, the quality of parenting needs to be considered, such that children in high-conflict families benefit from shared parenting only when children receive high-quality parenting (Lamb, 2012; Sandler, Wheeler, & Braver, 2013)« (Mahrer et al., 2018, S. 328).
3.2 Förderprinzip bzw. die elterliche Erziehungseignung – Instrumentalisierungen des Kindes im Partnerkonflikt:
Wird eine Instrumentalisierung der Kinder im Partnerkonflikt bzw. die Einbeziehung der Kinder in den Elternstreit dauerhaft und planmäßig vorgenommen, spricht das gegen die grundsätzliche Sorgeeignung dieses Elternteils. Gelingt es einem Elternteil hingegen, die persönlichen Spannungen im Verhältnis zur Partnerin bzw. zum Partner zurückzudrängen, das Kind von den Elternkonflikten freizuhalten und ihm das Gefühl zu geben, dass es weiterhin zwei um sein Wohl bemühte Elternteile hat, so ist diese kindgerechte Haltung ein wesentlicher Gesichtspunkt zugunsten dieses Elternteils (Staudinger/Coester, 2020, S. 394).
Ein gravierender Erziehungsfehler, der die erzieherische Eignung sehr in Frage stellt, liegt vor, wenn ein Elternteil das Kind zu einer Ablehnung oder gar hasserfüllten Einstellung gegenüber dem anderen Elternteil beeinflusst (Johannsen, Henrich & Althammer/Lack, 2020, S. 1172). Staudinger/Coester (2020, S. 400) stellt fest: »Die Instrumentalisierung von Kindern im Partnerkonflikt ist eine schwerwiegende Verletzung der Kindesinteressen, die – in Durchbrechung des Kontinuitätsprinzips – auch einen Betreuungswechsel rechtfertigen kann« (siehe auch: BGH 11.07.1984, IV b ZB 73/83, FamRZ 1985, 169–172, S. 170–171). Der Bundesgerichthof hat im Jahr 2019 festgestellt, dass sich ein Koalitionsdruck nachteilig auf Kinder auswirkt: »Es wirkt sich nachteilig auf die Kinder aus, wenn sie von einem Elternteil – bewusst oder unbewusst – unter ›Koalitionsdruck‹ gesetzt und sie dadurch in Loyalitätskonflikte gebracht werden« (BGH 27.11.2019, XII ZB 511/18, FamRZ 2020, 252–255, S. 254).
4. Die rechtliche Situation
In dem hier vorliegenden Einzelfall wurde die Quantität der Interaktionen zwischen dem Vater und dem Kind durch einen Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 07.05.2018 (Az. 2 UF 176/17) festgelegt. Die Qualität der Interaktionen zwischen dem Vater und dem Kind war niemals zu beanstanden – auch in dem hier vorgelegten Sachverständigengutachten nicht – und wurde als förderlich für die Entwicklung des Kindes angesehen. Auf die Notwendigkeit eines erwiesenen Zusammenhangs zwischen Umgang und Störungen beim Kind weist Rauscher (2014) hin: »Umgangsrelevant können solche Störungen (Anmerkung: psychische und physische Störungen) nur sein, wenn sie nachweisbar durch den Umgang entstanden sind oder durch ihn verstärkt werden OLG Karlsruhe ZfL 1980, 292; OLG Hamm KindPrax 1999, 63; OLG Stuttgart NJW 1981, 404)« (Staudinger/ Rauscher, 2014, S. 238–264).
In einer fachpsychologischen Stellungnahme zu dem vom Familiengericht beauftragten Sachverständigengutachten wurde korrigierend festgestellt, dass das wechselseitige Wohlverhaltensgebot seitens der Mutter mehrfach missachtet wurde. Die Akzeptanz der Kontaktregelung wurde seitens der Mutter immer wieder in Frage gestellt, und dies hatte zur Folge, dass die Umgänge zwischen dem Jungen und seinem Vater mehrfach gerichtlich festgelegt werden mussten. Die andauernden Verstöße der Mutter gegen das wechselseitige Wohlverhaltensgebot und die fehlende Bindungstoleranz der Mutter wurden von der Sachverständigen bei der Beantwortung der gerichtlichen Fragestellung nicht berücksichtigt. Durch die oben genannten Verhaltensweisen der Mutter steht fest, dass sie ihrer aus § 1684 Abs. 2 BGB folgenden Verpflichtung zur Förderung des Umgangs des Kindes mit dem Vater nicht nachgekommen ist. Diese Handlungen der Mutter sind verantwortlich dafür, dass sich die Beziehung des Kindes zu seinem Vater verschlechtert und dass die Bindung des Kindes zu seinem Vater unsicher werden könnte. Der betreuende Elternteil hat alles zu unterlassen, was die Durchführung einer vereinbarten oder gerichtlich verfügten Umgangsregelung beeinträchtigt oder vereitelt. Er hat seine eigene ablehnende Haltung so zu steuern, dass das Kind nicht in einen Loyalitätskonflikt gerät, indem es sich auf die Seite des betreuenden Elternteils, der seine Abneigung gegen den Umgang deutlich macht, stellt, um dessen Wohlwollen zu erhalten. Gegen seine Wohlverhaltenspflicht verstößt ein Elternteil auch, der eine vordergründige Förderung des Umgangs durch subtilen psychischen Einfluss untergräbt, der es einem kleineren Kind freistellt, ob es Umgang mit dem anderen Elternteil haben will.
Die rechtliche Konsequenz davon müsste vorrangig nicht der temporäre Ausschluss des Umgangsrechts, sondern die gerichtliche Anordnung des Umgangs sein. Der Ausschluss des Umgangsrechts ist nach § 1684 Abs. 4 BGB nur das letzte in Betracht kommende Mittel. Der Ausschluss ist nach Abs. 4 Satz 2 der Norm nur zulässig, wenn dies erforderlich ist, weil andernfalls das Wohl des Kindes gefährdet wäre (BVerfG 14.07.2010, 1 BvR 3189/09, FamRZ 2010, S. 1622; BVerfG 29.11.2012, 1 BvR 335/12, ZKJ 2013, S. 120). Der Umgangsausschluss muss nach den Umständen des Falles unumgänglich sein, um eine Gefährdung der körperlichen oder seelischen Entwicklung des Kindes abzuwenden. Die Gefahr darf nicht auf andere Weise ausreichend sicher abgewehrt werden können (BVerfG 15.06.1971, 1 BvR 192/70, E 31, 194–212; S. 194). Vor dem Ausschluss des Umgangs ist stets zu prüfen, ob nicht die bloße Beschränkung des Umgangsrechts oder dessen sachgerechte Ausgestaltung, etwa durch Begleitung des Umgangs oder die Anordnung einer Umgangspflegschaft ausreichend ist (BVerfG 05.12.2008, 1 BvR 746/08, FamRZ 2009, S. 399).
Das Sachverständigengutachten hat sich weiterhin nicht damit auseinandergesetzt, dass ein Umgangsausschluss in der Mehrheit der Fälle dazu führt, dass es zu einem vollständigen Kontaktabbruch kommt (Staudinger/Dürbeck, 2019, S. 260).
5. Die gerichtlichen Beschlüsse
Das Amtsgericht Karlsruhe-Durlach (Az. 2 F 152/19) ist dem Sachverständigengutachten in dem Teil gefolgt, dass »unter der Beibehaltung der aktuellen Umgangsmodalitäten eine Kindeswohlgefährdung gegeben« sei, und hat mit Beschluss vom 10. Februar 2021 den Umgang des Kindes mit seinem Vater nach § 1684 Abs. 4 BGB für die Dauer von einem Jahr ausgesetzt. Das Amtsgericht Karlsruhe-Durlach begründet wie folgt: »Die Frage einer weiteren Umgangspflegschaft stellt sich daher nach Überzeugung des Gerichts nicht mehr, denn die Bejahung der akut vorliegenden Kindeswohlgefährdung steht einem weiteren Umgang, auch einem solchen mit Umgangspflegschaft, entgegen.«
Das Amtsgericht Karlsruhe-Durlach führt weiter aus, dass nach Darstellung der Sachverständigen nicht ausgeschlossen sei, dass sich die Beziehung des Kindes zur Mutter durch deren Haltung gegenüber dem Vater im Laufe der Zeit verschlechtert. »Es entspricht auch der gerichtlichen Erfahrung, dass spätestens in der Pubertät, wenn die Eltern sehr kritisch gesehen werden und das Kind sich von ihnen abzugrenzen versucht, die Beziehung zu der bisherigen Hauptbezugsperson so schlecht werden kann, dass ein Wechsel zum anderen Elternteil erfolgt. Allerdings steht diese bei einem bald siebenjährigen Kind noch nicht unmittelbar bevor.«
Das Oberlandesgericht Karlsruhe (Az. 2 UF 58/21) hat aus den oben genannten Gründen den Beschluss des Amtsgerichts Karlsruhe-Durlach vom 10. Februar 2021 faktisch aufgehoben und eine Umgangspflegschaft eingerichtet. Die Eltern haben in der Verhandlung beim Oberlandesgericht Karlsruhe vereinbart, das Verfahren zum Umgangsrecht ruhen zu lassen und dass das Kind alle zwei Wochen Umgang mit seinem Vater am Wohnort des Vaters hat.
Die Autoren
Dr. Axel Schmidt hat eine Ausbildung als Diplom-
Betriebswirt und Diplom- Psychologe absolviert
und war bis 2020 Partner der Unternehmensberatung
Batten & Company GmbH (Gesellschaft der BBDOGermany). Seit 2017 ist er als Dozent zur Ausbildung von Sozialpädagoginnen und ‑pädagogen an der Hochschule Niederrhein (University of Applied
Sciences) tätig.
Prof. em. Dr. Karl Westhoff ist emeritierter Professor für Psychologie der Fakultät für Psychologie der Technischen Universität Dresden. Seit seiner Emeritierung arbeitet er als Berater, Coach und Trainer.
Z U S A M M E N FA S S U N G
Der unbestimmte Rechtsbegriff »Kindeswohl« erfordert zur Konkretisierung die Ausfüllung mit konsensfähigen humanwissenschaftlichen Erkenntnissen. In der Rechtsprechung wird das Kindeswohlprinzip bei Trennung der Eltern durch die Kindeswohlkriterien »Förderungsprinzip bzw. die elterliche Erziehungseignung«, »Kontinuitäts und Stabilitätsprinzip«, »Bindungen des Kindes« und »Kindeswille« operationalisiert. Die Humanwissenschaften liefern hier ein zu den rechtlichen Entscheidungskriterien korrespondierendes System von Untersuchungsergebnissen und damit einen Maßstab, um das Kindeswohl im Einzelfall zu beurteilen und die Entscheidungsfindung auf eine faktenbasierte Grundlage zu stellen. Das Fehlen einer transparenten und geregelten Schnittstelle der Familiengerichte zur Wissenschaft und damit der verlässliche Zugang zu aktuellen Forschungsergebnissen zu den Inhalten des Kindeswohlbegriffs und zu den angewendeten Kindeswohlkriterien kann zu Fehlentscheidungen führen und damit zu Verlängerungen von Familiengerichtsverfahren – mit hohen Belastungen für alle Beteiligten. Das hier vorgestellte Praxisbeispiel ist eines von vielen Beispielen, anhand derer aufgezeigt werden kann, dass auch bei unkomplizierten Einzelfallentscheidungen vermeidbare Fehler gemacht werden, die durch Sicherstellung der Berücksichtigung sämtlicher konsensfähiger Erkenntnisse der Humanwissenschaften in familienrechtlichen Verfahren hätten vermieden werden können.
A B S T R A C T
The vague legal term »best interests of the child« needs to be better explained by taking account of social scientific results that find a general consensus. In case law the principle of »the child’s best interests« when the parents have separated can be operationalized by use of the criteria »principle of child support and development or the suitability of parent to bring up a child«, and the principles of »stability and continuity«, »bonding of the child« and »wishes of the child«. Social science provides here a series of study results that correspond to the legal decision criteria and therefore provide a yardstick for assessing the best interests of the child in an individual case and for putting decision-making on a fact-based foundation. The absence of a transparent and regulated interface between family courts and social science and therefore of a reliable access to current research results on the meaning and import of the term »best interests of the child« and of their criteria as being applied elsewhere can lead to poor judgements and hence to prolongation of family court proceedings and an increased strain on all the parties involved. The example presented here is one of many that can be used to demonstrate that even in uncomplicated individual case decisions avoidable mistakes are made that could have been avoided by securing in family law proceedings the consideration of all social science results that have a broad consensus.
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