Junger Mann sitzt im Dämmerlicht auf Kirchenbank vor hellen, bunten Kirchenfenstern.

Auf die lange Bank geschoben

Von DANA HAJEK

28. Novem­ber 2021 · Die Kir­che, der Miss­brauch und kein Ende: Vor elf Jah­ren haben die katho­li­schen Bischö­fe Auf­ar­bei­tung ver­spro­chen. Wie weit sind sie gekom­men? Eine Daten­re­cher­che offen­bart neue Ein­bli­cke in das umstrit­te­ne Sys­tem der soge­nann­ten „Aner­ken­nungs­leis­tun­gen“. 

Schloss­platz in Ful­da. Die Herbst­son­ne scheint auf den grau­en Asphalt. Drei Män­ner, Mit­te Vier­zig, tra­gen ein Schild über einen schma­len Bord­stein auf die gegen­über­lie­gen­de Stra­ßen­sei­te. Eine weiß­haa­ri­ge Frau bleibt ste­hen, liest die Auf­schrift.

„Ich fin­de es toll, dass Sie Betrof­fe­nen ein Sprach­rohr geben. Das geht unter“, sagt sie.
„Das betrach­ten lei­der nicht alle so“, ant­wor­tet einer der drei.
„Man muss ja auch rich­tig hin­gu­cken, um zu sehen wie viel ver­tuscht und was schön­ge­re­det wird. Und auf die­se Punk­te muss man hin­wei­sen. Des­we­gen ist es wich­tig, dass Sie hier ste­hen.“
„Das wer­fen wir vor. Und des­we­gen sind wir so unbe­liebt“, sagt der Mann, greift das Schild, stellt es in die Son­ne, damit, wenn sie das Schloss ver­las­sen, jeder ein­zel­ne Bischof die Auf­schrift auch wirk­lich gut erken­nen kann: „Wenn Aner­ken­nung zur Glücks­sa­che wird.“ 

23. Sep­tem­ber 2021, katho­li­sche Bischofs­kon­fe­renz in Fulda.

Wie das Beben begann

Über die Miss­brauchs­fäl­le der katho­li­schen Kir­che, die vor elf Jah­ren – nach Skan­da­len in Irland und in den USA – auch in Deutsch­land in grö­ße­rem Umfang bekannt wur­den, berich­te­ten Medi­en welt­weit. In einem Brief an 600 ehe­ma­li­ge Abitu­ri­en­ten hat­te der damals amtie­ren­de Rek­tor des von Jesui­ten betrie­be­nen Cani­sius-Kol­legs in Ber­lin, P. Klaus Mer­tes SJ, ver­öf­fent­licht, was ihm drei ehe­ma­li­ge Schü­ler mit­ge­teilt hat­ten. Zwei Jesui­ten­pa­tres, die an der Schu­le unter­rich­te­ten, hät­ten in den 1970er und 1980er Jah­ren sys­te­ma­tisch sexu­el­len Miss­brauch verübt.

Der Brief schock­te die Öffent­lich­keit. Mer­tes ging davon aus, dass es noch viel mehr Opfer gab. In den fol­gen­den Wochen mel­de­ten sich immer mehr der Miss­brauchs­op­fer. Vom Cani­sius-Kol­leg aus ver­brei­te­te sich der Skan­dal über das gan­ze Land.

So bra­chen im März des­sel­ben Jah­res ehe­ma­li­ge Schü­ler der hes­si­schen Oden­wald­schu­le, einer reform­päd­ago­gi­schen Bil­dungs­ein­rich­tung, ihr Schwei­gen. Auch dort wur­den in den 1980er Jah­ren Schü­ler sys­te­ma­tisch von dem frü­he­ren Schul­lei­ter Gerold Becker und meh­re­ren Leh­rern miss­braucht. Nach und nach wur­de deut­lich, dass sexu­el­ler Miss­brauch an Bil­dungs­ein­rich­tun­gen unter­schied­li­cher Art pas­siert, aber genau­so auch in Sport­ver­ei­nen und Frei­zeit­grup­pen – und an vie­len ande­ren Orten, an denen Kin­der und Erwach­se­ne eine enge Ver­trau­ens­be­zie­hung zuein­an­der pfle­gen. Sexu­el­ler Miss­brauch von Kin­dern und Jugend­li­chen wur­de zum gesell­schaft­li­chen Thema.


4883 Missbrauchsopfer: Nur die Spitze des Eisbergs

Um die Zahl der Per­so­nen, die sich mit Berich­ten über sexu­el­len Miss­brauch bei der katho­li­schen Kir­che in Deutsch­land mel­de­ten, zu erfas­sen, kon­tak­tier­te die F.A.Z. die ein­zel­nen Bis­tü­mer, die die Daten auf Anfra­ge her­aus­ga­ben. Auf die­ser Grund­la­ge han­delt es sich um 4883 Per­so­nen, die zwi­schen 1946 und 2020 als Kin­der oder Jugend­li­che sexu­el­len Miss­brauch durch Kir­chen­mit­ar­bei­ter erlebt haben. Die­se Zahl zeigt aber nur die bekannt gewor­de­ne Spit­ze des Eis­bergs, das soge­nann­te „Hell­feld“. Nach den Wor­ten des Direk­tors der Kin­der- und Jugend­psych­ia­trie der Uni­ver­si­tät Ulm, Jörg M. Fegert, spielt sich der Kin­des­miss­brauch in den meis­ten Fäl­len hin­ter ver­schlos­se­nen Türen ab. Aus die­sem Grund müs­se von einer hohen Dun­kel­zif­fer, zwi­schen 39.000 und 390.000, aus­ge­gan­gen werden.

Auch wenn sich die meis­ten Betrof­fe­nen aus Gebie­ten mit einem hohen Katho­li­ken­an­teil ten­den­zi­ell aus dem Süden und Wes­ten in Deutsch­land mel­de­ten, liegt die Quo­te des sexu­el­len Miss­brauchs in Rela­ti­on zur Gesamt­an­zahl an Katho­li­ken in den Bis­tü­mern ähn­lich hoch, in denen weni­ger Men­schen der katho­li­schen Kon­fes­si­on ange­hö­ren (20 bis 40 Fäl­le je 100.000 Katho­li­ken). Erken­nen lässt sich das an den Bis­tü­mern Mag­de­burg (23) und Aachen (19), Ber­lin (35) und Trier (34) sowie Dres­den-Mei­ßen (37) und Mainz (34). Sexu­el­ler Miss­brauch ist dem­nach in Deutsch­land ein flä­chen­de­cken­des Pro­blem, das sich bun­des­weit über alle Bis­tums­gren­zen hin­weg erstreckt.

Die „alte“ Ordnung

Als Reak­ti­on auf die Ent­hül­lun­gen des sexu­el­len Miss­brauchs in den eige­nen Ein­rich­tun­gen, arbei­te­ten die katho­li­schen Bischö­fe ein detail­lier­tes Kon­zept zur Ent­schä­di­gung der Opfer aus, dass aus den vier Säu­len Prä­ven­ti­on, Über­nah­me von Kos­ten für Psy­cho­the­ra­pie und Paar­be­ra­tung, mate­ri­el­ler Aner­ken­nung des Leids sowie einer Här­te­fall­re­ge­lung bestand. Die­ses leg­ten sie der Arbeits­grup­pe Jus­tiz des „Run­den Tischs Sexu­el­ler Kin­des­miss­brauch“ der Bun­des­re­gie­rung im März 2011 vor.

Per­so­nen, die als Kin­der oder Jugend­li­che sexua­li­sier­te Gewalt durch Kir­chen­mit­ar­bei­ter erfah­ren haben, konn­ten nun über das soge­nann­te Ver­fah­ren der „mate­ri­el­len Leis­tun­gen in Aner­ken­nung des erlit­te­nen Lei­des“ einen Anspruch auf eine Aner­ken­nung bis zu 5000 Euro gel­tend machen, in beson­ders schwe­ren Fäl­len auch mehr. Weil vie­le Betrof­fe­ne auf­grund der nach 20 Jah­ren ein­tre­ten­den Ver­jäh­rung ihres Fal­les kei­nen Anspruch auf Scha­den­er­satz oder Schmer­zens­geld haben, den sie vor staat­li­chen Gerich­ten durch­set­zen kön­nen, sind die Zah­lun­gen eine soge­nann­te „Aner­ken­nung“, eine Schen­kung der Kir­che, einen Rechts­an­spruch gibt es dar­auf nicht.

Um die­se Leis­tung zu erhal­ten, rie­fen die Bischö­fe die betrof­fe­nen Per­so­nen auf, sich umge­hend bei den Miss­brauchs­be­auf­trag­ten des Bis­tums zu mel­den. Bei ihnen soll­ten sie einen schrift­li­chen Antrag stel­len, der anschlie­ßend an die dafür ein­ge­rich­te­te „Zen­tra­le Koor­di­nie­rungs­stel­le“ (ZKS) ging. Eine Kom­mis­si­on, deren Mit­glie­der nament­lich geheim blie­ben, sprach dort im wei­te­ren Ver­lauf des Ver­fah­rens eine Emp­feh­lung über die Höhe der Ent­schä­di­gung an die Bis­tü­mer aus. Die Emp­feh­lun­gen waren für sie aber nicht bin­dend, so dass die Aus­zah­lungs­hö­he zuletzt der Ent­schei­dung der Bis­tü­mer unterlag.


Willkürliche Behandlung von Missbrauchsopfern

Seit dem Inkraft­tre­ten der ers­ten Ver­fah­rens­ord­nung sind in dem Zeit­raum von 2011 bis 2020 etwa 2060 Anträ­ge von der ZKS bear­bei­tet und 12,2 Mil­lio­nen Euro aus­ge­zahlt wor­den. So geht es aus den Daten der Bis­tü­mer her­vor, die der F.A.Z. vor­lie­gen. Laut offi­zi­el­len Anga­ben der Deut­schen Bischofs­kon­fe­renz (DBK) müss­te es sich um 2430 Anträ­ge han­deln. Die Dif­fe­renz lässt sich auf die Zahl der Anträ­ge an die Ordens­ge­mein­schaf­ten zurück­füh­ren, die in den her­aus­ge­ge­be­nen Zah­len der Bis­tü­mer nicht ent­hal­ten sind. 

Hin­ter­grund ist, dass die Ordens­ge­mein­schaf­ten recht­lich nicht den Bis­tü­mern unter­ste­hen. Bis­lang liegt die Ent­schei­dung über die Teil­nah­me an solch einem Ver­fah­ren dem­nach bei jeder ein­zel­nen Ordens­ge­mein­schaft. Ledig­lich 14 Pro­zent gaben bekannt, sich der Ver­fah­rens­ord­nung der DBK zur Aner­ken­nung des Leids anzu­schlie­ßen. Das heißt, bis heu­te ist ein Groß­teil der Betrof­fe­nen, die im Rechts­be­reich von Ordens­ge­mein­schaf­ten sexu­el­le Gewalt erfah­ren haben, noch gar nicht in den Genuss einer Ent­schä­di­gung gekom­men. Pro­ble­ma­tisch, da vie­le katho­li­sche Schu­len und Kin­der­hei­me in denen es in der Ver­gan­gen­heit zu Miss­brauchs­fäl­len gekom­men ist, in Trä­ger­schaft der Orden waren.

Wie aus den Daten wei­ter her­vor­geht, ent­spricht die Quo­te der Antrag­stel­ler bloß 42 Pro­zent bezo­gen auf die bekann­te Gesamt­zahl der Betrof­fe­nen. Ein Groß­teil von ihnen hat sich dem­nach nie an die Kir­che gewandt. Die Quo­ten der Antrag­stel­ler in den ein­zel­nen Bis­tü­mern unter­schei­det sich erheb­lich: Wäh­rend sie bei­spiels­wei­se im Bis­tum Augs­burg bei 79 Pro­zent liegt, ist sie im Bis­tum Pas­sau mit 17 Pro­zent deut­lich gerin­ger. Woher kom­men die­se Diskrepanzen?

1. Gremium nicht bekannt, Entscheidungen nicht transparent

Betrof­fe­ne bemän­gel­ten von Anfang die feh­len­de Trans­pa­renz des Aner­ken­nungs­ver­fah­rens: Weder die Kri­te­ri­en, auf deren Grund­la­ge die Zah­lungs­emp­feh­lun­gen an die Bis­tü­mer bestimmt wur­den oder Infor­ma­tio­nen dar­über, wer die Anträ­ge sah, über sie beriet, Emp­feh­lun­gen aus­sprach, sind jemals öffent­lich gemacht wor­den. Fer­ner kri­ti­sier­ten sie die feh­len­de Unab­hän­gig­keit des Ent­schei­dungs­gre­mi­ums: Um über­haupt eine Leis­tung zu erhal­ten, muss­ten die Betrof­fe­nen sich zuerst an die Miss­brauchs­be­auf­trag­ten wen­den, die von den jewei­li­gen Bis­tü­mern man­da­tiert wur­den. Auch die dafür ein­ge­setz­te ZKS war beim Büro für Fra­gen sexu­el­len Miss­brauchs Min­der­jäh­ri­ger im kirch­li­chen Bereich im Sekre­ta­ri­at der Deut­schen Bischofs­kon­fe­renz eingerichtet. 

2. Niedrige Zahlungen

Im Blick auf die Schwe­re man­cher Taten ent­zün­de­te sich Empö­rung über die durch die ZKS emp­foh­le­nen Höhe der Zah­lun­gen. „Es waren Sum­men, für die sich vie­le Men­schen nicht nackig machen woll­ten – ohne wirk­lich zu wis­sen, ob sie am Ende über­haupt die­se 5000 Euro erhal­ten wer­den“, erklärt Jens Win­del, Grün­der der Betrof­fe­nen­in­itia­ti­ve Hil­des­heim in einem Inter­view gegen­über der F.A.Z. „Es waren Sum­men, für die sich vie­le Men­schen nicht nackig machen woll­ten – ohne wirk­lich zu wis­sen, ob sie am Ende über­haupt die­se 5000 Euro erhal­ten wer­den.“ JENS WINDEL, Grün­der von der Betrof­fe­nen­in­itia­ti­ve Hildesheim 

3. Bistümer bearbeiten Aufträge beliebig

Dar­über hin­aus haf­te­te dem Ver­fah­ren eine gewis­se Will­kür an. Wäh­rend zum Bei­spiel in einem Bis­tum die Antrag­stel­lung fast immer eine Aner­ken­nungs­zah­lung zur Fol­ge hat­te, wur­den in ande­ren Diö­ze­sen gera­de ein­mal sie­ben Pro­zent der Fäl­le posi­tiv beschie­den. Zu die­sen – und vie­len ande­ren – ver­nich­ten­den Ergeb­nis­sen kamen die Autoren in der von der Deut­schen Bischofs­kon­fe­renz selbst in Auf­trag gege­be­nen „MHG-Stu­die“ über sexu­el­le Gewalt in der katho­li­schen Kir­che in Deutsch­land im Jahr 2018. Die For­scher leg­ten nahe, dass es in der katho­li­schen Kir­che Merk­ma­le und Struk­tu­ren gibt, die sexu­el­len Miss­brauch durch Geist­li­che begüns­ti­gen können. 

Im Übri­gen stell­ten sie fest, dass ein sys­te­mi­sches Ver­sa­gen bei der Ver­schleie­rung und man­geln­den Auf­ar­bei­tung von Miss­brauchs­fäl­len vor­lag. Jens Win­del von der Betrof­fe­nen­in­itia­ti­ve Hil­des­heim kri­ti­siert, es habe Ansprech­per­so­nen in den Bis­tü­mern gege­ben, „die knall­hart waren und ver­such­ten Betrof­fe­nen Din­ge zu ent­lo­cken. Sie prüf­ten es juris­tisch. Es war nicht beleg­bar. Antrag abgewiesen.“ 

Die „MHG-Stu­die“ mach­te deut­lich, dass das seit 2011 unter dem Dach der Deut­schen Bischofs­kon­fe­renz prak­ti­zier­te Ver­fah­ren so nicht mehr wei­ter­ge­führt wer­den konn­te. Betrof­fe­ne dräng­ten auf eine Neu­re­ge­lung der Zah­lun­gen. Opfer­ver­bän­de hat­ten bis zu 400 000 Euro pro Fall gefordert


Eine unabhängige Kommission: Der große Wurf?

Im Herbst 2019 hat­ten die Bischö­fe daher selbst ange­sto­ßen das bis dahin gül­ti­ge Sys­tem der Aner­ken­nungs­zah­lun­gen neu auf­zu­set­zen. Sie beauf­trag­ten eine unab­hän­gi­ge Arbeits­grup­pe aus 28 Mit­glie­dern, dar­un­ter acht Betrof­fe­ne, die das dar­auf­fol­gen­de Jahr an der Ent­wick­lung eines neu­en Sys­tems arbei­te­ten. Exper­ten­run­den tag­ten. Die ange­streb­ten Refor­men soll­ten das Ver­fah­ren nach­voll­zieh­ba­rer machen, die Beschei­dung in den Diö­ze­sen ver­ein­heit­li­chen und die Höhe der Ent­schä­di­gungs­zah­lun­gen anhe­ben. 

Im Novem­ber 2020 unter­zeich­ne­ten die Bischö­fe zusätz­lich eine „Gemein­sa­me Erklä­rung“, in der sie sich zur Auf­ar­bei­tung ver­pflich­te­ten. Sie setz­ten im Anschluss einen aus zwölf Per­so­nen bestehen­den Betrof­fe­nen­bei­rat ein, der die lau­fen­den Pro­zes­se mit­ge­stal­ten sollte.

Mit gro­ßem Aplomb trat am 1. Janu­ar 2021 eine neue „Ord­nung für das Ver­fah­ren zur Aner­ken­nung des Leids für Betrof­fe­ne sexu­el­len Miss­brauchs im kirch­li­chen Kon­text“ in Kraft. Sie lös­te die seit 2011 prak­ti­zier­te Rege­lung der mate­ri­el­len Aner­ken­nung erlit­te­nen Leids ab. Anstel­le der ZKS brach­ten die Bischö­fe eine neu kre­ierte „Unab­hän­gi­ge Kom­mis­si­on für Aner­ken­nungs­leis­tung“ (UKA) in Bonn auf den Weg, die ab sofort die Höhe von Zah­lun­gen bestim­men soll­te. Die neue Ver­ord­nung sah eini­ge Ände­run­gen vor.

1. Höhere Zahlungen 

Ers­tens soll­ten Betrof­fe­ne sexua­li­sier­ter Gewalt künf­tig höhe­re Zah­lun­gen erhal­ten kön­nen. So sol­len sich die Beträ­ge an Urtei­len staat­li­cher Gerich­te von Schmer­zens­geld in ver­gleich­ba­ren Fäl­len ori­en­tie­ren. Der Leis­tungs­rah­men wur­de auf bis zu 50.000 Euro auf­ge­stockt, in beson­de­ren Här­te­fäl­len auch mehr. Zusätz­lich kön­nen Betrof­fe­ne wie auch in der vor­ma­li­gen Ver­fah­rens­ord­nung schon Kos­ten für Psy­cho­the­ra­pie und Paar­be­ra­tung ver­gü­tet bekommen.

2. Experten sind namentlich bekannt

Zwei­tens sind die Mit­glie­der der Kom­mis­si­on, die sich aus sie­ben Exper­ten zusam­men­setzt, nun nament­lich bekannt. Das Gre­mi­um aus Juris­ten, Päd­ago­gen, Medi­zi­nern und Psy­cho­lo­gen ist nicht von der katho­li­schen Kir­che ange­stellt. Ernannt wur­de es den­noch vom Vor­sit­zen­den der Deut­schen Bischofs­kon­fe­renz, dem Lim­bur­ger Bischof Georg Bätzing. 

3. Einheitliche Handhabung

Drit­tens wer­den die Zah­lun­gen nicht mehr von den Diö­ze­sen aus­be­zahlt, son­dern von der UKA selbst. Dem­nach wen­den sich die Betrof­fe­nen wei­ter­hin an die Miss­brauchs­be­auf­trag­ten eines Bis­tums. Die­se füh­ren ein Gespräch und unter­stüt­zen gege­be­nen­falls beim Aus­fül­len des Antrags. Von dort wird der Antrag an die UKA wei­ter­ge­lei­tet. Im Unter­schied zum Vor­gän­ger-Ver­fah­ren legt sie nun die Leis­tungs­hö­he fest und gibt die Aus­zah­lung in Auf­trag. Die Geschäfts­stel­le der UKA infor­miert den Betrof­fe­nen sowie die zustän­di­ge Diö­ze­se über die Ent­schei­dung und zahlt den fest­ge­setz­ten Betrag sofort aus.

7,1 Millionen Euro an 468 Betroffene

Seit­dem die Bischö­fe die UKA ins Leben rie­fen, haben inner­halb des Unter­su­chungs­zeit­raums von Janu­ar bis Novem­ber in die­sem Jahr von 2430 Antrag­stel­lern aus dem vor­he­ri­gen Ver­fah­ren, ein Drit­tel (842) noch­mals einen Antrag gestellt. Dies geht aus den Daten her­vor, die die F.A.Z. erho­ben hat. Ins­ge­samt beläuft sich die Zahl an Erst- und Zweit­an­trä­gen auf 1427. 

Zum Ende des Unter­su­chungs­zeit­raums lagen 468 Ent­schei­dun­gen vor. Bun­des­weit erfolg­ten Zah­lun­gen in Höhe von 7,1 Mil­lio­nen Euro. Im Ver­gleich zum vor­an­ge­gan­gen Ver­fah­ren, ergibt sich ein Durch­schnitt von 15.291 Euro im Jahr 2021, ein Anstieg von 158 Prozent.

Im Ver­gleich zum Vor­jahr stieg auch die Zahl der Antrag­stel­ler um mehr als das Fünf­fa­che, von 250 auf 1427. Damit beläuft sich die Zahl in die­sem Jahr auf so vie­le Anträ­ge wie aus den sechs vor­he­ri­gen Jah­ren zusammen.

Haupt­säch­lich liegt es dar­an, dass die Bischö­fe die Betrof­fe­nen, die bereits Leis­tun­gen erhal­ten haben, direkt auf­for­der­ten noch­mals einen Antrag zu stel­len. Für man­che Betrof­fe­ne misch­te daher die Arbeit der unab­hän­gi­gen Kom­mis­si­on die Kar­ten neu. „In vie­len brann­te die Hoff­nung auf eine wert­schät­zen­de Aner­ken­nung des Leids“, sagt Jens Win­del der Betrof­fe­nen­in­itia­ti­ve Hil­des­heim. „Sie soll­te einer ehr­li­chen Ent­schul­di­gung gleich­kom­men und damit Betrof­fe­nen eine Chan­ce geben, das Erleb­te bes­ser zu verarbeiten.“

Ein Blick in die Bistümer

Mit Blick auf die Aus­zah­lun­gen in den 27 Diö­ze­sen fällt auf, dass deut­lich mehr Bis­tü­mer im neu­en Ver­fah­ren der UKA über dem Durch­schnitt von 15.291 Euro lie­gen. Im Vor­gän­ger-Ver­fah­ren über die ZKS gab es zwar die Mög­lich­keit von den gede­ckel­ten 5000 Euro nach oben oder nach unten abzu­wei­chen, oft vor­ge­kom­men ist es indes nicht, daher lie­gen nur weni­ge Diö­ze­sen über oder unter dem bun­des­wei­ten Durchschnitt. 

Nach der neu­en Ver­fah­rens­ord­nung wur­den in allen Bis­tü­mern bis auf die Bis­tü­mer Ber­lin, Osna­brück, Regens­burg und Mainz höhe­re Zah­lun­gen geleis­tet. Von 5000 bis 50.000 Euro rei­chen hier die durch­schnitt­li­chen Summen.Durchschnittliche Zah­lun­gen im Ver­gleich Die alte Ver­fah­rens­ord­nung (2011 bis 2020) mit der neu­en Ver­fah­rens­ord­nung (2021) 


Zuletzt aktua­li­siert am 25. Novem­ber 2021 /Grafik: dhaj. / Quel­le: Eige­ne Erhe­bung der Bistümer

Um die höchs­ten Ein­zel­sum­men der ein­zel­nen Bis­tü­mer her­aus­zu­fin­den, hat die F.A.Z. eine Anfra­ge bei den Diö­ze­sen gestellt, es ant­wor­te­ten dar­auf ledig­lich 14 von 27 Bis­tü­mern. Dies ent­spricht einer Aus­schöp­fungs­quo­te von 50 Pro­zent. Auf die­ser Basis lässt sich erhe­ben, dass der obe­re Rand der Schmer­zens­geld­ta­bel­le in etwa einem Drit­tel der Bis­tü­mer aus­ge­schöpft wor­den ist.


Belastende Wartezeit trotz Umstrukturierung

Doch obwohl das von der Deut­schen Bischofs­kon­fe­renz mit gro­ßem öffent­li­chem Nach­druck ange­kün­dig­te Schmer­zens­geld erheb­lich ange­ho­ben wur­de, befin­det sich die UKA durch die zahl­rei­chen Anträ­ge in einer Aus­nah­me­si­tua­ti­on. Nach aktu­el­lem Stand sind 32,7 Pro­zent der ein­ge­gan­ge­nen Anträ­ge ent­schie­den wor­den. Inner­halb der letz­ten neun Mona­te lag die Quo­te bei 41 Ent­schei­dun­gen im Monat. Bleibt es dabei, wür­de es fast zwei Jah­re dau­ern (ohne Neu­an­trä­ge!) bis alle Anträ­ge bear­bei­tet wären.

Im Juni hat­te die UKA inter­ne Umstruk­tu­rie­run­gen ange­kün­digt, um die Bear­bei­tungs­zei­ten zu beschleu­ni­gen: Per­so­nal auf­ge­stockt, Tagungs­in­ter­val­le ver­kürzt und Ent­schei­dungs­gre­mi­en ver­klei­nert. In den Daten lässt sich inzwi­schen erken­nen, dass es in den letz­ten vier Mona­ten eine leich­te Beschleu­ni­gung gab.

Mitt­ler­wei­le ent­schei­den zwei Kam­mern aus jeweils drei Exper­ten im bes­ten Fall ein­mal wöchent­lich, in einer vier- bis fünf­stün­di­gen Sit­zung über 20 bis 40 Anträ­ge. Dies bedeu­tet, dass es noch wei­te­re sechs Mona­te dau­ern könn­te, um die der­zeit vor­lie­gen­den 959 Anträ­ge zu bewil­li­gen – Neu­an­trä­ge sind hier­bei noch nicht berück­sich­tigt. Von die­sem Sze­na­rio liegt die Bewil­li­gungs­quo­te der UKA der­zeit jedoch noch beträcht­lich entfernt. 

Außer­dem lässt sich fest­stel­len, dass die Anträ­ge aus den ein­zel­nen Bis­tü­mern ungleich­mä­ßig bear­bei­tet wor­den sind. Dies ist zunächst nicht ver­wun­der­lich, da Anträ­ge in unter­schied­li­chen Zeit­fens­tern ein­ge­hen und aus­ge­wähl­te Anträ­ge von der UKA vor­ge­zo­gen wer­den. Wie zum Bei­spiel soge­nann­te „Prio­ri­sie­rungs­fäl­le“, Anträ­ge von Betrof­fe­nen über 80 Jah­ren oder von wel­chen mit einer schwe­ren Krank­heit. Den­noch stellt sich die Fra­ge, war­um aus man­chen Diö­ze­sen jeder zwei­te Fall bewil­ligt, wäh­rend aus ande­ren kei­ner oder kaum einer ent­schie­den wur­de. Dar­un­ter zäh­len zum Bei­spiel die Bis­tü­mer Dres­den-Mei­ßen (12 Anträge/ 0 bewil­ligt), Mainz (33/2) und Lim­burg (26/2).

Im Schnitt stam­men 74 Pro­zent der Anträ­ge von Betrof­fe­nen, die schon Leis­tun­gen erhal­ten haben. 26 Pro­zent for­der­ten das ers­te Mal eine Aner­ken­nung ein. Auf­fäl­lig ist, dass im Bis­tum Hil­des­heim über die Hälf­te der Antrag­stel­ler einen Erst­an­trag stell­ten, wäh­rend sich in ande­ren Bis­tü­mern ver­mehrt Zweit­an­trag­stel­ler mel­de­ten. Hier drängt sich die Fra­ge auf, war­um vie­le Betrof­fe­ne aus­ge­rech­net jetzt das ers­te Mal eine Leis­tung ein­for­der­ten und dies nicht schon in den ver­gan­ge­nen zehn Jah­ren getan haben. Eine Erklä­rung wäre, dass die Beträ­ge nach der neu­en Ver­fah­rens­ord­nung gestie­gen sind, Betrof­fe­ne also mehr Anrei­ze beka­men, über­haupt einen Antrag zu stellen.

Ledig­lich 48 Pro­zent der Betrof­fe­nen, die über das vor­he­ri­ge Ver­fah­ren bereits eine Zah­lung erhal­ten haben, bean­trag­te erneut eine Leis­tung. Gera­de ein­mal 24,6 Pro­zent der Betrof­fe­nen stell­ten im Bis­tum Augs­burg wie­der­holt einen Antrag. Hier wäre drin­gend zu prü­fen, war­um die Betrof­fe­nen in die­sem Bis­tum sich nicht noch­mals an die Kir­che wand­ten oder die Kir­che nicht an sie.

Große Inszenierung, zu wenig Veränderung?

Gemes­sen den hohen Erwar­tun­gen, die die Bischö­fe selbst geschürt haben, hat die neue Ver­fah­rens­ord­nung den­noch zu Ent­täu­schung bei Betrof­fe­nen geführt: Um eine Leis­tung zu bean­tra­gen, müs­sen sie sich nach wie vor zunächst an die Miss­brauchs­be­auf­trag­ten wen­den, die von den jewei­li­gen Bis­tü­mern ein­ge­setzt wer­den. Einen staat­li­chen Beauf­trag­ten, der voll­stän­dig unab­hän­gig von der Kir­che arbei­tet, exis­tiert in Deutsch­land bis­lang nicht. Ernannt wer­den die Mit­glie­der der Kom­mis­si­on aktu­ell auch nach wie vor durch die Deut­sche Bischofskonferenz. 

Wie es aus einem Brief des Betrof­fe­nen­bei­rats der Deut­schen Bischofs­kon­fe­renz vom 13. Sep­tem­ber her­vor­geht, sei­en durch die Beschei­de außer­dem eine erheb­li­che Zahl von Retrau­ma­ti­sie­run­gen bis hin zu sta­tio­nä­ren Unter­brin­gun­gen in psych­ia­tri­schen Kli­ni­ken ver­ur­sacht worden. 

Auch wenn die neue Ver­fah­rens­ord­nung vor­sieht, dass die Zah­lun­gen nicht mehr von den Diö­ze­sen geleis­tet wer­den, son­dern von der UKA selbst, ermit­teln die Mit­glie­der der Kom­mis­si­on – wie schon die Vor­gän­ger in der ZKS – nicht selbst. Sie blei­ben abhän­gig von der Akten­la­ge, also von der Doku­men­ta­ti­on, die die Diö­ze­sen ihnen vor­le­gen. Vor­schlä­ge, dem Gre­mi­um Ein­sicht in die Akten zu gestat­ten, lehn­te die Bischofs­kon­fe­renz ab. Sie erlaub­ten der UKA auch nicht auto­nom gegen­über der Öffent­lich­keit zu handeln.

Das heißt, den Mit­glie­dern bleibt nichts ande­res übrig, als einen Fall, der in den Akten prä­zi­se doku­men­tiert ist, anders zu gewich­ten bei der Fest­set­zung der Ent­schä­di­gung als einen Fall, bei dem dies nicht so ist. Somit ent­ste­hen durch das Ver­fah­ren zwangs­läu­fig neue Unge­rech­tig­kei­ten, die auch zu Retrau­ma­ti­sie­run­gen füh­ren können.


Nicht gesehen, nicht gehört

Wie die neue Ver­fah­rens­ord­nung wei­ter vor­sieht, bekom­men die Betrof­fe­nen aus­schließ­lich das Ergeb­nis ihres Ver­fah­ren beschie­den – fall­be­zo­ge­ne Begrün­dun­gen wer­den den Opfern vor­ent­hal­ten. Wider­spruch gegen die Ent­schei­dung ein­zu­le­gen, ist unzu­läs­sig. Auch hier birgt das Ver­fah­ren ein Risi­ko der Retrau­ma­ti­sie­rung. Denn eine ele­men­ta­re Erfah­rung von Betrof­fe­nen sexu­el­ler Gewalt ist, die Kon­trol­le ver­lo­ren zu haben, mani­pu­liert und gedrängt wor­den zu sein. Bei man­chen Betrof­fe­nen erwägt die Ver­fah­rens­ord­nung der UKA genau die­sen Ein­druck: Dass über sie bestimmt wird, sie nicht die Mög­lich­keit haben, als Mensch gese­hen und gehört zu werden.„Das Ver­fah­ren wur­de und wird von nicht weni­gen Betrof­fe­nen als demü­ti­gend, nicht wert­schät­zend und teil­wei­se sogar als retrau­ma­ti­sie­rend erlebt.“ HARALD DREß­ING, Koor­di­na­tor der „MHG-Stu­die“ und lei­ten­der Psychiater 

Der Koor­di­na­tor der „MHG-Stu­die“, der Mann­hei­mer Psych­ia­ter Harald Dreß­ing, kri­ti­sier­te das Ver­fah­ren gegen­über der F.A.Z. mit den Wor­ten, es sei „viel zu lang­sam und viel zu intrans­pa­rent“. Aus die­sem Grund „wur­de und wird es von nicht weni­gen Betrof­fe­nen als demü­ti­gend, nicht wert­schät­zend und teil­wei­se sogar als retrau­ma­ti­sie­rend erlebt“.

Warum die Folgen der Tat im Vordergrund stehen müssen

Im Übri­gen beschwer­ten sich ein­zel­ne Betrof­fe­ne, die trotz der schwe­ren Fol­gen ihres Miss­brauchs nur einen klei­nen Teil­be­trag erhiel­ten – und nicht wis­sen war­um. In eini­gen Fäl­len liegt es dar­an, dass die Kri­te­ri­en der UKA zur Fest­le­gung der Ent­schä­di­gung sich vor­ran­gig an der Schwe­re der Tat­hand­lun­gen ori­en­tie­ren. Pro­ble­ma­tisch, da vie­le Taten weit in der Ver­gan­gen­heit zurück­lie­gen, beschul­dig­te Pries­ter häu­fig nicht mehr leben und Beschul­di­gun­gen in den Akten nicht sorg­fäl­tig doku­men­tiert oder – in mehr als der Hälf­te der Fäl­le – gar nicht erst auf­ge­nom­men wor­den sind. Damit wird das Ver­fah­ren der Beur­tei­lung der Fol­gen sexu­el­len Miss­brauchs nicht hin­rei­chend gerecht.

Sinn­vol­ler wäre ein Ver­fah­ren, das fest­setzt, wie hoch der Schä­di­gungs­grad der Opfer von sexu­el­ler Gewalt ist, an dem sich nach­fol­gend die Höhe der Ent­schä­di­gungs­zah­lun­gen ori­en­tie­ren. In Gut­ach­ten des Opfer­ent­schä­di­gungs­ge­set­zes ist dies zum Bei­spiel der Fall.

Denn die Fol­gen eines sexu­el­len Miss­brauchs kön­nen sehr unter­schied­lich sein. „Wun­den blei­ben bei fast allen. Man­che kön­nen es aber bes­ser ver­ar­bei­ten, bei ande­ren kommt es zu einer kom­plet­ten Zer­stö­rung eines Lebens­ent­wurfs“, sagt Harald Dreß­ing. Daher sei die vor­ran­gi­ge Ori­en­tie­rung an der Schwe­re der Tat­hand­lun­gen für die Bemes­sung der Höhe einer Ent­schä­di­gung nicht zielführend.

Der Fall von Michael S.

Was das in der Pra­xis bedeu­tet, zeigt der Fall von Micha­el S. Obwohl er mona­te­lang miss­braucht wur­de, hat der Bre­mer nun von der UKA ledig­lich 7.000 Euro zuge­bil­ligt bekom­men: S.: „Ich bin seit dem Bekannt­wer­den des Miss­brauchs­skan­dals krank gewor­den. Alles kam wie­der hoch.“

Gesund­heit­li­che Fol­gen: 60 län­ger­fris­ti­ge Auf­ent­hal­te im Kran­ken­haus und in der Not­auf­nah­me, The­ra­pien über Mona­te, Bor­der­line, Depres­si­on, ein Schlag­an­fall. „Natür­lich kann man das, was mir pas­siert ist, mit kei­nem Geld der Welt wie­der gut machen. Aber für mich ist es die größ­te Demü­ti­gung, dass das was man in der Bischofs­kon­fe­renz beschlos­sen hat­te, die Gren­ze von fünf- bis 50.000 aus­zu­schöp­fen, in mei­nem Fall so viel nied­ri­ger aus­ge­fal­len ist.” 

1000 Euro bekam Micha­el S. über­wie­sen, da die vor­her vom Erz­bis­tum Pader­born gezahl­ten 6.000 Euro abge­zo­gen wur­den. S. habe im alten Ver­fah­ren einen höhe­ren Betrag erhal­ten, da sein Miss­brauch in der Schwe­re höher ein­ge­ord­net wur­de. Daher habe er im neu­en Ver­fah­ren Sum­men im zwei­stel­li­gen Bereich erwartet.


„Es ist unge­nau und unge­recht, wie ein Glücks­rad“ Micha­el S., Betroffener 


Ihm gehe es nicht um das Geld, betont der 54-Jäh­ri­ge, son­dern dass sein Miss­brauch in der Schmer­zens­geld­ta­bel­le rich­tig ein­ge­ord­net wer­de. Es gehe nicht dar­um, ob er 25.000 oder 23.000 Euro bekom­me, aber da er so weit dar­un­ter lie­ge, sei es eine Baga­tel­li­sie­rung sei­nes Vor­falls. „Es ist unge­nau und unge­recht, wie ein Glücks­rad“, sagt er. „Das ist das, was Betrof­fe­ne so ner­vös macht. Wir wis­sen wie­der nicht, wor­auf wir uns hier einlassen.“


Betroffene fordern staatliche Aufarbeitung

Micha­el S., so wie auch ande­re Miss­brauchs­op­fer, sind ent­täuscht und des­il­lu­sio­niert über die Art und Wei­se, wie die Auf­ar­bei­tung in der katho­li­schen Kir­che ange­gan­gen wird. Elf Jah­re nach der Auf­de­ckung des Miss­brauchs­skan­dals und drei Jah­re nach der Vor­stel­lung der „MHG-Stu­die“ haben immer noch nicht alle katho­li­schen Bis­tü­mer eige­ne Kom­mis­sio­nen oder Betrof­fe­nen­bei­rä­te ein­ge­rich­tet. Immer noch nicht alle haben Gut­ach­ten in Auf­trag gege­ben, die die Miss­brauchs­fäl­le inner­halb der eige­nen Ein­rich­tun­gen sys­te­ma­tisch unter­su­chen. Auch eine ver­bind­li­che Struk­tur für die Auf­ar­bei­tung auf gesamt­deut­scher Ebe­ne gibt es nicht.

Immer mehr Betrof­fe­nen­in­itia­ti­ven for­dern staat­li­che Ein­grif­fe bei der Auf­ar­bei­tung des Miss­brauchs­skan­dals. Dafür war die Umset­zung einer „Wahr­heits­kom­mis­si­on“, sprich: einer von der Kir­che gänz­lich unab­hän­gi­gen Kom­mis­si­on, ein Vor­schlag. Anfang des Jah­res hat­te sich der Vor­sit­zen­de der Deut­schen Bischofs­kon­fe­renz, Georg Bät­zing, erst­mals sogar grund­sätz­lich offen dafür gezeigt, den sexu­el­len Miss­brauch durch eine vom Bun­des­tag ein­ge­setz­te „Wahr­heits­kom­mis­si­on“ auf­ar­bei­ten zu las­sen. Er wies jedoch dar­auf hin, dass es zuletzt die Auf­ga­be des Bun­des­ta­ges bleibt, dar­über zu ent­schei­den. Doch der aktu­el­len Ver­fas­sungs­la­ge sind enge Gren­zen gesetzt.

Laut Grund­ge­setz regeln die Kir­chen ihre inne­ren Ange­le­gen­hei­ten selbst. Aus­lö­ser waren Über­grif­fe auf die Kir­che in der Ver­gan­gen­heit, wie die von Reichs­kanz­ler Otto von Bis­marck, wäh­rend des Natio­nal­so­zia­lis­mus und der DDR. Dem­nach wäre für eine „Wahr­heits­kom­mis­si­on“ eine Ände­rung im Grund­ge­setz erfor­der­lich. Ein juris­tisch schwer durch­setz­ba­rer Schritt.

Am 11. Okto­ber und am 9. Novem­ber hat­ten Gesprä­che zwi­schen Ver­tre­tern des Betrof­fe­nen­bei­rats, der UKA und der Bischofs­kon­fe­renz statt­ge­fun­den. Dabei soll­ten die Kri­tik­punk­te noch ein­mal dis­ku­tiert und mög­li­che Maß­nah­men bespro­chen wer­den. Am Mon­tag­abend teil­te die Bischofs­kon­fe­renz mit, an dem zu Beginn des Jah­res ein­ge­führ­ten Ver­fah­ren zur Aner­ken­nung des durch Miss­brauch ver­ur­sach­ten Leids fest­zu­hal­ten, es aber opti­mie­ren zu wol­len. In Zukunft soll es eine ein­ma­li­ge Wider­spruchs­mög­lich­keit für Betrof­fe­ne geben, um sich etwa über die Höhe der Aner­ken­nungs­leis­tung zu beschwe­ren. Um den Antrags­stau zu behe­ben, beschlos­sen sie zudem, die unab­hän­gi­ge Kom­mis­si­on sowie die Geschäfts­stel­le per­so­nell aufzustocken. 

Zen­tra­le Kri­tik­punk­te der Betrof­fe­nen wie eine Anhe­bung der Ent­schä­di­gung und mehr Trans­pa­renz hin­ter den Ent­schei­dun­gen wur­den indes nicht auf­ge­grif­fen. Auch die Teil­nah­me des Betrof­fe­nen­bei­rats an den Bera­tun­gen des Stän­di­gen Rats der Bischofs­kon­fe­renz, in der eine Erhö­hung der Ent­schä­di­gun­gen bespro­chen wur­de, wur­de expli­zit abgelehnt. 

Gro­ße Reform­schrit­te sieht Micha­el S. in den Ver­än­de­run­gen des­halb nicht. Viel­leicht kön­ne er jetzt Ein­spruch erhe­ben, wis­se aber doch nicht ein­mal wor­auf. Schließ­lich wer­den die Grün­de hin­ter den Beschei­den immer noch nicht offen­ge­legt. „Das Ver­fah­ren bleibt so wie es ist. Die Bischö­fe ver­wei­sen wei­ter­hin auf die unab­hän­gi­ge Kom­mis­si­on, die unab­hän­gi­ge Kom­mis­si­on behaup­tet wei­ter­hin beharr­lich, sie sei unab­hän­gig, und die Betrof­fe­nen wer­den mal wie­der auf die Bischofs­kon­fe­renz im nächs­ten Früh­jahr ver­trös­tet“, sagt er. „Fünf wei­te­re Mona­te auf die lan­ge Bank geschoben.“

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