Von DANA HAJEK
28. November 2021 · Die Kirche, der Missbrauch und kein Ende: Vor elf Jahren haben die katholischen Bischöfe Aufarbeitung versprochen. Wie weit sind sie gekommen? Eine Datenrecherche offenbart neue Einblicke in das umstrittene System der sogenannten „Anerkennungsleistungen“.
Schlossplatz in Fulda. Die Herbstsonne scheint auf den grauen Asphalt. Drei Männer, Mitte Vierzig, tragen ein Schild über einen schmalen Bordstein auf die gegenüberliegende Straßenseite. Eine weißhaarige Frau bleibt stehen, liest die Aufschrift.
„Ich finde es toll, dass Sie Betroffenen ein Sprachrohr geben. Das geht unter“, sagt sie.
„Das betrachten leider nicht alle so“, antwortet einer der drei.
„Man muss ja auch richtig hingucken, um zu sehen wie viel vertuscht und was schöngeredet wird. Und auf diese Punkte muss man hinweisen. Deswegen ist es wichtig, dass Sie hier stehen.“
„Das werfen wir vor. Und deswegen sind wir so unbeliebt“, sagt der Mann, greift das Schild, stellt es in die Sonne, damit, wenn sie das Schloss verlassen, jeder einzelne Bischof die Aufschrift auch wirklich gut erkennen kann: „Wenn Anerkennung zur Glückssache wird.“
23. September 2021, katholische Bischofskonferenz in Fulda.
Wie das Beben begann
Über die Missbrauchsfälle der katholischen Kirche, die vor elf Jahren – nach Skandalen in Irland und in den USA – auch in Deutschland in größerem Umfang bekannt wurden, berichteten Medien weltweit. In einem Brief an 600 ehemalige Abiturienten hatte der damals amtierende Rektor des von Jesuiten betriebenen Canisius-Kollegs in Berlin, P. Klaus Mertes SJ, veröffentlicht, was ihm drei ehemalige Schüler mitgeteilt hatten. Zwei Jesuitenpatres, die an der Schule unterrichteten, hätten in den 1970er und 1980er Jahren systematisch sexuellen Missbrauch verübt.
Der Brief schockte die Öffentlichkeit. Mertes ging davon aus, dass es noch viel mehr Opfer gab. In den folgenden Wochen meldeten sich immer mehr der Missbrauchsopfer. Vom Canisius-Kolleg aus verbreitete sich der Skandal über das ganze Land.
So brachen im März desselben Jahres ehemalige Schüler der hessischen Odenwaldschule, einer reformpädagogischen Bildungseinrichtung, ihr Schweigen. Auch dort wurden in den 1980er Jahren Schüler systematisch von dem früheren Schulleiter Gerold Becker und mehreren Lehrern missbraucht. Nach und nach wurde deutlich, dass sexueller Missbrauch an Bildungseinrichtungen unterschiedlicher Art passiert, aber genauso auch in Sportvereinen und Freizeitgruppen – und an vielen anderen Orten, an denen Kinder und Erwachsene eine enge Vertrauensbeziehung zueinander pflegen. Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen wurde zum gesellschaftlichen Thema.
4883 Missbrauchsopfer: Nur die Spitze des Eisbergs
Um die Zahl der Personen, die sich mit Berichten über sexuellen Missbrauch bei der katholischen Kirche in Deutschland meldeten, zu erfassen, kontaktierte die F.A.Z. die einzelnen Bistümer, die die Daten auf Anfrage herausgaben. Auf dieser Grundlage handelt es sich um 4883 Personen, die zwischen 1946 und 2020 als Kinder oder Jugendliche sexuellen Missbrauch durch Kirchenmitarbeiter erlebt haben. Diese Zahl zeigt aber nur die bekannt gewordene Spitze des Eisbergs, das sogenannte „Hellfeld“. Nach den Worten des Direktors der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Ulm, Jörg M. Fegert, spielt sich der Kindesmissbrauch in den meisten Fällen hinter verschlossenen Türen ab. Aus diesem Grund müsse von einer hohen Dunkelziffer, zwischen 39.000 und 390.000, ausgegangen werden.
Auch wenn sich die meisten Betroffenen aus Gebieten mit einem hohen Katholikenanteil tendenziell aus dem Süden und Westen in Deutschland meldeten, liegt die Quote des sexuellen Missbrauchs in Relation zur Gesamtanzahl an Katholiken in den Bistümern ähnlich hoch, in denen weniger Menschen der katholischen Konfession angehören (20 bis 40 Fälle je 100.000 Katholiken). Erkennen lässt sich das an den Bistümern Magdeburg (23) und Aachen (19), Berlin (35) und Trier (34) sowie Dresden-Meißen (37) und Mainz (34). Sexueller Missbrauch ist demnach in Deutschland ein flächendeckendes Problem, das sich bundesweit über alle Bistumsgrenzen hinweg erstreckt.
Die „alte“ Ordnung
Als Reaktion auf die Enthüllungen des sexuellen Missbrauchs in den eigenen Einrichtungen, arbeiteten die katholischen Bischöfe ein detailliertes Konzept zur Entschädigung der Opfer aus, dass aus den vier Säulen Prävention, Übernahme von Kosten für Psychotherapie und Paarberatung, materieller Anerkennung des Leids sowie einer Härtefallregelung bestand. Dieses legten sie der Arbeitsgruppe Justiz des „Runden Tischs Sexueller Kindesmissbrauch“ der Bundesregierung im März 2011 vor.
Personen, die als Kinder oder Jugendliche sexualisierte Gewalt durch Kirchenmitarbeiter erfahren haben, konnten nun über das sogenannte Verfahren der „materiellen Leistungen in Anerkennung des erlittenen Leides“ einen Anspruch auf eine Anerkennung bis zu 5000 Euro geltend machen, in besonders schweren Fällen auch mehr. Weil viele Betroffene aufgrund der nach 20 Jahren eintretenden Verjährung ihres Falles keinen Anspruch auf Schadenersatz oder Schmerzensgeld haben, den sie vor staatlichen Gerichten durchsetzen können, sind die Zahlungen eine sogenannte „Anerkennung“, eine Schenkung der Kirche, einen Rechtsanspruch gibt es darauf nicht.
Um diese Leistung zu erhalten, riefen die Bischöfe die betroffenen Personen auf, sich umgehend bei den Missbrauchsbeauftragten des Bistums zu melden. Bei ihnen sollten sie einen schriftlichen Antrag stellen, der anschließend an die dafür eingerichtete „Zentrale Koordinierungsstelle“ (ZKS) ging. Eine Kommission, deren Mitglieder namentlich geheim blieben, sprach dort im weiteren Verlauf des Verfahrens eine Empfehlung über die Höhe der Entschädigung an die Bistümer aus. Die Empfehlungen waren für sie aber nicht bindend, so dass die Auszahlungshöhe zuletzt der Entscheidung der Bistümer unterlag.
Willkürliche Behandlung von Missbrauchsopfern
Seit dem Inkrafttreten der ersten Verfahrensordnung sind in dem Zeitraum von 2011 bis 2020 etwa 2060 Anträge von der ZKS bearbeitet und 12,2 Millionen Euro ausgezahlt worden. So geht es aus den Daten der Bistümer hervor, die der F.A.Z. vorliegen. Laut offiziellen Angaben der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) müsste es sich um 2430 Anträge handeln. Die Differenz lässt sich auf die Zahl der Anträge an die Ordensgemeinschaften zurückführen, die in den herausgegebenen Zahlen der Bistümer nicht enthalten sind.
Hintergrund ist, dass die Ordensgemeinschaften rechtlich nicht den Bistümern unterstehen. Bislang liegt die Entscheidung über die Teilnahme an solch einem Verfahren demnach bei jeder einzelnen Ordensgemeinschaft. Lediglich 14 Prozent gaben bekannt, sich der Verfahrensordnung der DBK zur Anerkennung des Leids anzuschließen. Das heißt, bis heute ist ein Großteil der Betroffenen, die im Rechtsbereich von Ordensgemeinschaften sexuelle Gewalt erfahren haben, noch gar nicht in den Genuss einer Entschädigung gekommen. Problematisch, da viele katholische Schulen und Kinderheime in denen es in der Vergangenheit zu Missbrauchsfällen gekommen ist, in Trägerschaft der Orden waren.
Wie aus den Daten weiter hervorgeht, entspricht die Quote der Antragsteller bloß 42 Prozent bezogen auf die bekannte Gesamtzahl der Betroffenen. Ein Großteil von ihnen hat sich demnach nie an die Kirche gewandt. Die Quoten der Antragsteller in den einzelnen Bistümern unterscheidet sich erheblich: Während sie beispielsweise im Bistum Augsburg bei 79 Prozent liegt, ist sie im Bistum Passau mit 17 Prozent deutlich geringer. Woher kommen diese Diskrepanzen?
1. Gremium nicht bekannt, Entscheidungen nicht transparent
Betroffene bemängelten von Anfang die fehlende Transparenz des Anerkennungsverfahrens: Weder die Kriterien, auf deren Grundlage die Zahlungsempfehlungen an die Bistümer bestimmt wurden oder Informationen darüber, wer die Anträge sah, über sie beriet, Empfehlungen aussprach, sind jemals öffentlich gemacht worden. Ferner kritisierten sie die fehlende Unabhängigkeit des Entscheidungsgremiums: Um überhaupt eine Leistung zu erhalten, mussten die Betroffenen sich zuerst an die Missbrauchsbeauftragten wenden, die von den jeweiligen Bistümern mandatiert wurden. Auch die dafür eingesetzte ZKS war beim Büro für Fragen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger im kirchlichen Bereich im Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz eingerichtet.
2. Niedrige Zahlungen
Im Blick auf die Schwere mancher Taten entzündete sich Empörung über die durch die ZKS empfohlenen Höhe der Zahlungen. „Es waren Summen, für die sich viele Menschen nicht nackig machen wollten – ohne wirklich zu wissen, ob sie am Ende überhaupt diese 5000 Euro erhalten werden“, erklärt Jens Windel, Gründer der Betroffeneninitiative Hildesheim in einem Interview gegenüber der F.A.Z. „Es waren Summen, für die sich viele Menschen nicht nackig machen wollten – ohne wirklich zu wissen, ob sie am Ende überhaupt diese 5000 Euro erhalten werden.“ JENS WINDEL, Gründer von der Betroffeneninitiative Hildesheim
3. Bistümer bearbeiten Aufträge beliebig
Darüber hinaus haftete dem Verfahren eine gewisse Willkür an. Während zum Beispiel in einem Bistum die Antragstellung fast immer eine Anerkennungszahlung zur Folge hatte, wurden in anderen Diözesen gerade einmal sieben Prozent der Fälle positiv beschieden. Zu diesen – und vielen anderen – vernichtenden Ergebnissen kamen die Autoren in der von der Deutschen Bischofskonferenz selbst in Auftrag gegebenen „MHG-Studie“ über sexuelle Gewalt in der katholischen Kirche in Deutschland im Jahr 2018. Die Forscher legten nahe, dass es in der katholischen Kirche Merkmale und Strukturen gibt, die sexuellen Missbrauch durch Geistliche begünstigen können.
Im Übrigen stellten sie fest, dass ein systemisches Versagen bei der Verschleierung und mangelnden Aufarbeitung von Missbrauchsfällen vorlag. Jens Windel von der Betroffeneninitiative Hildesheim kritisiert, es habe Ansprechpersonen in den Bistümern gegeben, „die knallhart waren und versuchten Betroffenen Dinge zu entlocken. Sie prüften es juristisch. Es war nicht belegbar. Antrag abgewiesen.“
Die „MHG-Studie“ machte deutlich, dass das seit 2011 unter dem Dach der Deutschen Bischofskonferenz praktizierte Verfahren so nicht mehr weitergeführt werden konnte. Betroffene drängten auf eine Neuregelung der Zahlungen. Opferverbände hatten bis zu 400 000 Euro pro Fall gefordert
Eine unabhängige Kommission: Der große Wurf?
Im Herbst 2019 hatten die Bischöfe daher selbst angestoßen das bis dahin gültige System der Anerkennungszahlungen neu aufzusetzen. Sie beauftragten eine unabhängige Arbeitsgruppe aus 28 Mitgliedern, darunter acht Betroffene, die das darauffolgende Jahr an der Entwicklung eines neuen Systems arbeiteten. Expertenrunden tagten. Die angestrebten Reformen sollten das Verfahren nachvollziehbarer machen, die Bescheidung in den Diözesen vereinheitlichen und die Höhe der Entschädigungszahlungen anheben.
Im November 2020 unterzeichneten die Bischöfe zusätzlich eine „Gemeinsame Erklärung“, in der sie sich zur Aufarbeitung verpflichteten. Sie setzten im Anschluss einen aus zwölf Personen bestehenden Betroffenenbeirat ein, der die laufenden Prozesse mitgestalten sollte.
Mit großem Aplomb trat am 1. Januar 2021 eine neue „Ordnung für das Verfahren zur Anerkennung des Leids für Betroffene sexuellen Missbrauchs im kirchlichen Kontext“ in Kraft. Sie löste die seit 2011 praktizierte Regelung der materiellen Anerkennung erlittenen Leids ab. Anstelle der ZKS brachten die Bischöfe eine neu kreierte „Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistung“ (UKA) in Bonn auf den Weg, die ab sofort die Höhe von Zahlungen bestimmen sollte. Die neue Verordnung sah einige Änderungen vor.
1. Höhere Zahlungen
Erstens sollten Betroffene sexualisierter Gewalt künftig höhere Zahlungen erhalten können. So sollen sich die Beträge an Urteilen staatlicher Gerichte von Schmerzensgeld in vergleichbaren Fällen orientieren. Der Leistungsrahmen wurde auf bis zu 50.000 Euro aufgestockt, in besonderen Härtefällen auch mehr. Zusätzlich können Betroffene wie auch in der vormaligen Verfahrensordnung schon Kosten für Psychotherapie und Paarberatung vergütet bekommen.
2. Experten sind namentlich bekannt
Zweitens sind die Mitglieder der Kommission, die sich aus sieben Experten zusammensetzt, nun namentlich bekannt. Das Gremium aus Juristen, Pädagogen, Medizinern und Psychologen ist nicht von der katholischen Kirche angestellt. Ernannt wurde es dennoch vom Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, dem Limburger Bischof Georg Bätzing.
3. Einheitliche Handhabung
Drittens werden die Zahlungen nicht mehr von den Diözesen ausbezahlt, sondern von der UKA selbst. Demnach wenden sich die Betroffenen weiterhin an die Missbrauchsbeauftragten eines Bistums. Diese führen ein Gespräch und unterstützen gegebenenfalls beim Ausfüllen des Antrags. Von dort wird der Antrag an die UKA weitergeleitet. Im Unterschied zum Vorgänger-Verfahren legt sie nun die Leistungshöhe fest und gibt die Auszahlung in Auftrag. Die Geschäftsstelle der UKA informiert den Betroffenen sowie die zuständige Diözese über die Entscheidung und zahlt den festgesetzten Betrag sofort aus.
7,1 Millionen Euro an 468 Betroffene
Seitdem die Bischöfe die UKA ins Leben riefen, haben innerhalb des Untersuchungszeitraums von Januar bis November in diesem Jahr von 2430 Antragstellern aus dem vorherigen Verfahren, ein Drittel (842) nochmals einen Antrag gestellt. Dies geht aus den Daten hervor, die die F.A.Z. erhoben hat. Insgesamt beläuft sich die Zahl an Erst- und Zweitanträgen auf 1427.
Zum Ende des Untersuchungszeitraums lagen 468 Entscheidungen vor. Bundesweit erfolgten Zahlungen in Höhe von 7,1 Millionen Euro. Im Vergleich zum vorangegangen Verfahren, ergibt sich ein Durchschnitt von 15.291 Euro im Jahr 2021, ein Anstieg von 158 Prozent.
Im Vergleich zum Vorjahr stieg auch die Zahl der Antragsteller um mehr als das Fünffache, von 250 auf 1427. Damit beläuft sich die Zahl in diesem Jahr auf so viele Anträge wie aus den sechs vorherigen Jahren zusammen.
Hauptsächlich liegt es daran, dass die Bischöfe die Betroffenen, die bereits Leistungen erhalten haben, direkt aufforderten nochmals einen Antrag zu stellen. Für manche Betroffene mischte daher die Arbeit der unabhängigen Kommission die Karten neu. „In vielen brannte die Hoffnung auf eine wertschätzende Anerkennung des Leids“, sagt Jens Windel der Betroffeneninitiative Hildesheim. „Sie sollte einer ehrlichen Entschuldigung gleichkommen und damit Betroffenen eine Chance geben, das Erlebte besser zu verarbeiten.“
Ein Blick in die Bistümer
Mit Blick auf die Auszahlungen in den 27 Diözesen fällt auf, dass deutlich mehr Bistümer im neuen Verfahren der UKA über dem Durchschnitt von 15.291 Euro liegen. Im Vorgänger-Verfahren über die ZKS gab es zwar die Möglichkeit von den gedeckelten 5000 Euro nach oben oder nach unten abzuweichen, oft vorgekommen ist es indes nicht, daher liegen nur wenige Diözesen über oder unter dem bundesweiten Durchschnitt.
Nach der neuen Verfahrensordnung wurden in allen Bistümern bis auf die Bistümer Berlin, Osnabrück, Regensburg und Mainz höhere Zahlungen geleistet. Von 5000 bis 50.000 Euro reichen hier die durchschnittlichen Summen.Durchschnittliche Zahlungen im Vergleich Die alte Verfahrensordnung (2011 bis 2020) mit der neuen Verfahrensordnung (2021)
Zuletzt aktualisiert am 25. November 2021 /Grafik: dhaj. / Quelle: Eigene Erhebung der Bistümer
Um die höchsten Einzelsummen der einzelnen Bistümer herauszufinden, hat die F.A.Z. eine Anfrage bei den Diözesen gestellt, es antworteten darauf lediglich 14 von 27 Bistümern. Dies entspricht einer Ausschöpfungsquote von 50 Prozent. Auf dieser Basis lässt sich erheben, dass der obere Rand der Schmerzensgeldtabelle in etwa einem Drittel der Bistümer ausgeschöpft worden ist.
Belastende Wartezeit trotz Umstrukturierung
Doch obwohl das von der Deutschen Bischofskonferenz mit großem öffentlichem Nachdruck angekündigte Schmerzensgeld erheblich angehoben wurde, befindet sich die UKA durch die zahlreichen Anträge in einer Ausnahmesituation. Nach aktuellem Stand sind 32,7 Prozent der eingegangenen Anträge entschieden worden. Innerhalb der letzten neun Monate lag die Quote bei 41 Entscheidungen im Monat. Bleibt es dabei, würde es fast zwei Jahre dauern (ohne Neuanträge!) bis alle Anträge bearbeitet wären.
Im Juni hatte die UKA interne Umstrukturierungen angekündigt, um die Bearbeitungszeiten zu beschleunigen: Personal aufgestockt, Tagungsintervalle verkürzt und Entscheidungsgremien verkleinert. In den Daten lässt sich inzwischen erkennen, dass es in den letzten vier Monaten eine leichte Beschleunigung gab.
Mittlerweile entscheiden zwei Kammern aus jeweils drei Experten im besten Fall einmal wöchentlich, in einer vier- bis fünfstündigen Sitzung über 20 bis 40 Anträge. Dies bedeutet, dass es noch weitere sechs Monate dauern könnte, um die derzeit vorliegenden 959 Anträge zu bewilligen – Neuanträge sind hierbei noch nicht berücksichtigt. Von diesem Szenario liegt die Bewilligungsquote der UKA derzeit jedoch noch beträchtlich entfernt.
Außerdem lässt sich feststellen, dass die Anträge aus den einzelnen Bistümern ungleichmäßig bearbeitet worden sind. Dies ist zunächst nicht verwunderlich, da Anträge in unterschiedlichen Zeitfenstern eingehen und ausgewählte Anträge von der UKA vorgezogen werden. Wie zum Beispiel sogenannte „Priorisierungsfälle“, Anträge von Betroffenen über 80 Jahren oder von welchen mit einer schweren Krankheit. Dennoch stellt sich die Frage, warum aus manchen Diözesen jeder zweite Fall bewilligt, während aus anderen keiner oder kaum einer entschieden wurde. Darunter zählen zum Beispiel die Bistümer Dresden-Meißen (12 Anträge/ 0 bewilligt), Mainz (33/2) und Limburg (26/2).
Im Schnitt stammen 74 Prozent der Anträge von Betroffenen, die schon Leistungen erhalten haben. 26 Prozent forderten das erste Mal eine Anerkennung ein. Auffällig ist, dass im Bistum Hildesheim über die Hälfte der Antragsteller einen Erstantrag stellten, während sich in anderen Bistümern vermehrt Zweitantragsteller meldeten. Hier drängt sich die Frage auf, warum viele Betroffene ausgerechnet jetzt das erste Mal eine Leistung einforderten und dies nicht schon in den vergangenen zehn Jahren getan haben. Eine Erklärung wäre, dass die Beträge nach der neuen Verfahrensordnung gestiegen sind, Betroffene also mehr Anreize bekamen, überhaupt einen Antrag zu stellen.
Lediglich 48 Prozent der Betroffenen, die über das vorherige Verfahren bereits eine Zahlung erhalten haben, beantragte erneut eine Leistung. Gerade einmal 24,6 Prozent der Betroffenen stellten im Bistum Augsburg wiederholt einen Antrag. Hier wäre dringend zu prüfen, warum die Betroffenen in diesem Bistum sich nicht nochmals an die Kirche wandten oder die Kirche nicht an sie.
Große Inszenierung, zu wenig Veränderung?
Gemessen den hohen Erwartungen, die die Bischöfe selbst geschürt haben, hat die neue Verfahrensordnung dennoch zu Enttäuschung bei Betroffenen geführt: Um eine Leistung zu beantragen, müssen sie sich nach wie vor zunächst an die Missbrauchsbeauftragten wenden, die von den jeweiligen Bistümern eingesetzt werden. Einen staatlichen Beauftragten, der vollständig unabhängig von der Kirche arbeitet, existiert in Deutschland bislang nicht. Ernannt werden die Mitglieder der Kommission aktuell auch nach wie vor durch die Deutsche Bischofskonferenz.
Wie es aus einem Brief des Betroffenenbeirats der Deutschen Bischofskonferenz vom 13. September hervorgeht, seien durch die Bescheide außerdem eine erhebliche Zahl von Retraumatisierungen bis hin zu stationären Unterbringungen in psychiatrischen Kliniken verursacht worden.
Auch wenn die neue Verfahrensordnung vorsieht, dass die Zahlungen nicht mehr von den Diözesen geleistet werden, sondern von der UKA selbst, ermitteln die Mitglieder der Kommission – wie schon die Vorgänger in der ZKS – nicht selbst. Sie bleiben abhängig von der Aktenlage, also von der Dokumentation, die die Diözesen ihnen vorlegen. Vorschläge, dem Gremium Einsicht in die Akten zu gestatten, lehnte die Bischofskonferenz ab. Sie erlaubten der UKA auch nicht autonom gegenüber der Öffentlichkeit zu handeln.
Das heißt, den Mitgliedern bleibt nichts anderes übrig, als einen Fall, der in den Akten präzise dokumentiert ist, anders zu gewichten bei der Festsetzung der Entschädigung als einen Fall, bei dem dies nicht so ist. Somit entstehen durch das Verfahren zwangsläufig neue Ungerechtigkeiten, die auch zu Retraumatisierungen führen können.
Nicht gesehen, nicht gehört
Wie die neue Verfahrensordnung weiter vorsieht, bekommen die Betroffenen ausschließlich das Ergebnis ihres Verfahren beschieden – fallbezogene Begründungen werden den Opfern vorenthalten. Widerspruch gegen die Entscheidung einzulegen, ist unzulässig. Auch hier birgt das Verfahren ein Risiko der Retraumatisierung. Denn eine elementare Erfahrung von Betroffenen sexueller Gewalt ist, die Kontrolle verloren zu haben, manipuliert und gedrängt worden zu sein. Bei manchen Betroffenen erwägt die Verfahrensordnung der UKA genau diesen Eindruck: Dass über sie bestimmt wird, sie nicht die Möglichkeit haben, als Mensch gesehen und gehört zu werden.„Das Verfahren wurde und wird von nicht wenigen Betroffenen als demütigend, nicht wertschätzend und teilweise sogar als retraumatisierend erlebt.“ HARALD DREßING, Koordinator der „MHG-Studie“ und leitender Psychiater
Der Koordinator der „MHG-Studie“, der Mannheimer Psychiater Harald Dreßing, kritisierte das Verfahren gegenüber der F.A.Z. mit den Worten, es sei „viel zu langsam und viel zu intransparent“. Aus diesem Grund „wurde und wird es von nicht wenigen Betroffenen als demütigend, nicht wertschätzend und teilweise sogar als retraumatisierend erlebt“.
Warum die Folgen der Tat im Vordergrund stehen müssen
Im Übrigen beschwerten sich einzelne Betroffene, die trotz der schweren Folgen ihres Missbrauchs nur einen kleinen Teilbetrag erhielten – und nicht wissen warum. In einigen Fällen liegt es daran, dass die Kriterien der UKA zur Festlegung der Entschädigung sich vorrangig an der Schwere der Tathandlungen orientieren. Problematisch, da viele Taten weit in der Vergangenheit zurückliegen, beschuldigte Priester häufig nicht mehr leben und Beschuldigungen in den Akten nicht sorgfältig dokumentiert oder – in mehr als der Hälfte der Fälle – gar nicht erst aufgenommen worden sind. Damit wird das Verfahren der Beurteilung der Folgen sexuellen Missbrauchs nicht hinreichend gerecht.
Sinnvoller wäre ein Verfahren, das festsetzt, wie hoch der Schädigungsgrad der Opfer von sexueller Gewalt ist, an dem sich nachfolgend die Höhe der Entschädigungszahlungen orientieren. In Gutachten des Opferentschädigungsgesetzes ist dies zum Beispiel der Fall.
Denn die Folgen eines sexuellen Missbrauchs können sehr unterschiedlich sein. „Wunden bleiben bei fast allen. Manche können es aber besser verarbeiten, bei anderen kommt es zu einer kompletten Zerstörung eines Lebensentwurfs“, sagt Harald Dreßing. Daher sei die vorrangige Orientierung an der Schwere der Tathandlungen für die Bemessung der Höhe einer Entschädigung nicht zielführend.
Der Fall von Michael S.
Was das in der Praxis bedeutet, zeigt der Fall von Michael S. Obwohl er monatelang missbraucht wurde, hat der Bremer nun von der UKA lediglich 7.000 Euro zugebilligt bekommen: S.: „Ich bin seit dem Bekanntwerden des Missbrauchsskandals krank geworden. Alles kam wieder hoch.“
Gesundheitliche Folgen: 60 längerfristige Aufenthalte im Krankenhaus und in der Notaufnahme, Therapien über Monate, Borderline, Depression, ein Schlaganfall. „Natürlich kann man das, was mir passiert ist, mit keinem Geld der Welt wieder gut machen. Aber für mich ist es die größte Demütigung, dass das was man in der Bischofskonferenz beschlossen hatte, die Grenze von fünf- bis 50.000 auszuschöpfen, in meinem Fall so viel niedriger ausgefallen ist.”
1000 Euro bekam Michael S. überwiesen, da die vorher vom Erzbistum Paderborn gezahlten 6.000 Euro abgezogen wurden. S. habe im alten Verfahren einen höheren Betrag erhalten, da sein Missbrauch in der Schwere höher eingeordnet wurde. Daher habe er im neuen Verfahren Summen im zweistelligen Bereich erwartet.
„Es ist ungenau und ungerecht, wie ein Glücksrad“ Michael S., Betroffener
Ihm gehe es nicht um das Geld, betont der 54-Jährige, sondern dass sein Missbrauch in der Schmerzensgeldtabelle richtig eingeordnet werde. Es gehe nicht darum, ob er 25.000 oder 23.000 Euro bekomme, aber da er so weit darunter liege, sei es eine Bagatellisierung seines Vorfalls. „Es ist ungenau und ungerecht, wie ein Glücksrad“, sagt er. „Das ist das, was Betroffene so nervös macht. Wir wissen wieder nicht, worauf wir uns hier einlassen.“
Betroffene fordern staatliche Aufarbeitung
Michael S., so wie auch andere Missbrauchsopfer, sind enttäuscht und desillusioniert über die Art und Weise, wie die Aufarbeitung in der katholischen Kirche angegangen wird. Elf Jahre nach der Aufdeckung des Missbrauchsskandals und drei Jahre nach der Vorstellung der „MHG-Studie“ haben immer noch nicht alle katholischen Bistümer eigene Kommissionen oder Betroffenenbeiräte eingerichtet. Immer noch nicht alle haben Gutachten in Auftrag gegeben, die die Missbrauchsfälle innerhalb der eigenen Einrichtungen systematisch untersuchen. Auch eine verbindliche Struktur für die Aufarbeitung auf gesamtdeutscher Ebene gibt es nicht.
Immer mehr Betroffeneninitiativen fordern staatliche Eingriffe bei der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals. Dafür war die Umsetzung einer „Wahrheitskommission“, sprich: einer von der Kirche gänzlich unabhängigen Kommission, ein Vorschlag. Anfang des Jahres hatte sich der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, erstmals sogar grundsätzlich offen dafür gezeigt, den sexuellen Missbrauch durch eine vom Bundestag eingesetzte „Wahrheitskommission“ aufarbeiten zu lassen. Er wies jedoch darauf hin, dass es zuletzt die Aufgabe des Bundestages bleibt, darüber zu entscheiden. Doch der aktuellen Verfassungslage sind enge Grenzen gesetzt.
Laut Grundgesetz regeln die Kirchen ihre inneren Angelegenheiten selbst. Auslöser waren Übergriffe auf die Kirche in der Vergangenheit, wie die von Reichskanzler Otto von Bismarck, während des Nationalsozialismus und der DDR. Demnach wäre für eine „Wahrheitskommission“ eine Änderung im Grundgesetz erforderlich. Ein juristisch schwer durchsetzbarer Schritt.
Am 11. Oktober und am 9. November hatten Gespräche zwischen Vertretern des Betroffenenbeirats, der UKA und der Bischofskonferenz stattgefunden. Dabei sollten die Kritikpunkte noch einmal diskutiert und mögliche Maßnahmen besprochen werden. Am Montagabend teilte die Bischofskonferenz mit, an dem zu Beginn des Jahres eingeführten Verfahren zur Anerkennung des durch Missbrauch verursachten Leids festzuhalten, es aber optimieren zu wollen. In Zukunft soll es eine einmalige Widerspruchsmöglichkeit für Betroffene geben, um sich etwa über die Höhe der Anerkennungsleistung zu beschweren. Um den Antragsstau zu beheben, beschlossen sie zudem, die unabhängige Kommission sowie die Geschäftsstelle personell aufzustocken.
Zentrale Kritikpunkte der Betroffenen wie eine Anhebung der Entschädigung und mehr Transparenz hinter den Entscheidungen wurden indes nicht aufgegriffen. Auch die Teilnahme des Betroffenenbeirats an den Beratungen des Ständigen Rats der Bischofskonferenz, in der eine Erhöhung der Entschädigungen besprochen wurde, wurde explizit abgelehnt.
Große Reformschritte sieht Michael S. in den Veränderungen deshalb nicht. Vielleicht könne er jetzt Einspruch erheben, wisse aber doch nicht einmal worauf. Schließlich werden die Gründe hinter den Bescheiden immer noch nicht offengelegt. „Das Verfahren bleibt so wie es ist. Die Bischöfe verweisen weiterhin auf die unabhängige Kommission, die unabhängige Kommission behauptet weiterhin beharrlich, sie sei unabhängig, und die Betroffenen werden mal wieder auf die Bischofskonferenz im nächsten Frühjahr vertröstet“, sagt er. „Fünf weitere Monate auf die lange Bank geschoben.“